Erstes Fallschirm-OpferWie ein Künstler 1837 voller Überzeugung in den Tod sprang
Von Philipp Dahm
24.7.2022
Er ist der Erfinder eines neuen Fallschirms und testet das Gerät heute vor 185 Jahren auch gleich selber aus. Weil Robert Cocking dabei ums Leben kommt, gerät das Fallschirmspringen nachhaltig in Verruf.
Von Philipp Dahm
24.07.2022, 13:03
24.07.2022, 15:08
Philipp Dahm
24. Juli 1837: In den Vauxhall Gardens am Londoner Themse-Ufer steigt ein Ballon auf, unter dem die Passant*innen einen merkwürdigen Anhang ausmachen können. Einige sind womöglich auch gekommen, weil sie einen Flyer gesehen haben, der Grosses für diesen Tag ankündigt.
Versprochen wird eine «aussergewöhnliche Neuerung und kombinierte Action». Genauer gesagt stehe ein «Aufstieg im Royal-Nassau-Ballon von Mister Green» an – und ein «Fall in einem neu erfundenen Fallschirm von Mister Cocking». Das neue Gerät ist konisch geformt, hat 32 Meter Umfang und ist ein «völlig neuer Fallschirm», heisst es da.
Und wer ist der Teufelskerl, der diesen Sprung wagen will? Robert Cocking wird angepriesen als «ein Gentleman mit grossen wissenschaftlichen Kenntnissen», der dem Sprung von André-Jacques Garnerin 1802 beigewohnt hat. Der Engländer gilt nach dem Franzosen Louis-Sébastien Lenormand als die zweite Person, der ein Fallschirmsprung gelungen ist.
Ein Künstler, der vom Fliegen träumt
Garnerins Fluggerät findet Cocking aber verbesserungswürdig – und tüftelt die nächste Jahre daran, es neu zu konstruieren. Dabei hat Cocking, der 1776 geboren wurde, einen ganz anderen Hintergrund: Er ist eigentlich Maler, der zwischen Kennington and Stockwell lebt.
Cocking wird als «kurz, rund und erfreulich ungepflegt» beschrieben. Er arbeitet auch als Lehrer und ist offenbar bei seinen Schülern sehr beliebt. Er malt Landschaften, aber auch Blumenbilder als Werbesujets, um seine Frau und zwei Verwandte, die bei ihnen leben, versorgen zu können.
Cockings Leidenschaft ist jedoch das Fliegen. Er ist besessen von Ballonen: Zeichnungen von ihnen füllen das ganze Haus. 35 Jahre, nachdem er Garnerins Sprung sieht, will er es seinem Landsmann gleichtun. Er fragt den berühmten Ballonfahrer Charles Green, ob er ihm bei seinen Vorhaben helfen will.
Was sollte schon schiefgehen?
Am 24. Juli 1837 heben Green, Edward Spencer und Cocking um 19.37 Uhr ab. «Ich sah, wie der Ballon mit dem angebrachten Fallschirm in die Luft des Sommerabends stieg», schreibt Robert Morley, der den Maler persönlich kennt. «Ich sah, wie der arme Kerl der Welt Lebewohl sagte. Ich wünschte, er wäre nicht so hastig ab- und hochgeflogen, bevor er sich gelöst hat.»
Cocking selbst hat seine Erfindung mit einem Modell im Massstab 1:12 getestet, das «fehlerfrei funktionierte», und ist überzeugt, dass sein Plan – und der Schirm – aufgehen würde. Was er nicht weiss: Er hat bei seinen Berechnungen vergessen, das Gewicht des Fallschirm miteinzuberechnen, der mit 115 Kilogramm deutlich schwerer ist als heutige Modelle.
Cocking schüttelt noch einige Hände, bevor er den Korb besteigt, der mit seinem Fallschirm unter dem Korb des Ballons angebracht ist. So sollen gut 2400 Meter Höhe erreicht werden, doch die Männer steigen nur 1500 Meter weit auf. Entweder war das Trio zu schwer oder die Zeit wurde knapp, um den Sprung noch im Tageslicht durchführen zu können.
«Ich wendete meine Augen ab»
Als sich der Fallschirm löst, sieht es in den ersten Momenten noch danach aus, als würde alles funktionieren. Der Ballon macht einen Satz nach oben, Cocking gleitet sanft hinab. Doch dann nimmt das Unglück seinen Lauf: «Ich wendete meine Augen vom Anblick dieses Dinges ab, das wie ein schwergewichtiger, trunkener Meteor schnell und schwankend zur Erde taumelte», beschreibt Morley die Szene.
Knapp 13 Kilometer von den Vauxhall Gardens schlägt Cockings Korb, der sich vom Rest des Fallschirms gelöst hat, auf. Einem Bericht zufolge wird der 61-Jährige von Arbeitern noch lebend in einem Feld entdeckt, ehe er stirbt. Eine andere Erzählung besagt, dass die lokale Bevölkerung dem Toten Brille, Uhr und Schuhe abnimmt, bevor er gefunden wird.
Robert Cocking bezahlt seine Passion mit dem Leben: Er ist der erste Mensch, der am Fallschirm stirbt. Das Springen gerät durch den Unfall in Verruf: In den kommenden Jahrzehnten bekommt man Fallschirme zumeist nur in Zirkusvorführungen zu sehen.
Erst mit der Erfindung des faltbaren Fallschirms Ende des 19 Jahrhunderts durch die Deutsche Käthe Paulus und des Rucksack-Fallschirms durch den Russen Gleb Kotelnikow im Jahr 1912 erfährt das heute so populäre Fluggerät wieder Aufwind.