Todesstrafe Hans Vollenweider, der letzte Schweizer unter dem Fallbeil

Von Philipp Dahm

11.2.2023

Hans Vollenweider, geboren am 11. Februar 1908 in Zürich, wurde am 18. Oktober 1940 als letzter Deliquent von der zivilen Justiz in Sarnen OW hingerichtet.
Hans Vollenweider, geboren am 11. Februar 1908 in Zürich, wurde am 18. Oktober 1940 als letzter Deliquent von der zivilen Justiz in Sarnen OW hingerichtet.
Gemeinfrei

Vor 115 Jahren kommt im Zürcher Seefeld ein Mann zur Welt, der Kriminalgeschichte schreibt: Wer ist Hans Vollenweider, der als letzter Schweizer für den Mord an einem jungen Polizisten exekutiert wurde?

Von Philipp Dahm

Um kurz nach 2 Uhr morgens holen sie Hans Vollenweider aus seiner Zelle im Sarner Gefängnis. Mit verbundenen Augen wird er in die benachbarte Scheune geführt, die mit schwarzen Tüchern ausgekleidet ist. Zwei protestantische Pfarrer, ein Arzt und zwei Urkundspersonen erwarten den Zürcher. Und ein Scharfrichter.

Der legt den Kopf des Delinquenten unter die berüchtigte Luzerner Guillotine. Er fixiert Vollenweider und entsichert in vier Meter Höhe das Fallbeil, das heruntersaust und den 32-Jährigen tötet. Es ist das letzte Mal, dass die Justiz einem Schweizer das Leben nimmt: Die Todesstrafe wird am 1. Januar 1942 abgeschafft. Schon wieder.

Die Luzerner Guillotine war bis 1869 die Zürcher Giullotine. Hier ist sie 1902 in Fribourg im Einsatz, um den Mörder Etienne Chatton hinzurichten.
Die Luzerner Guillotine war bis 1869 die Zürcher Giullotine. Hier ist sie 1902 in Fribourg im Einsatz, um den Mörder Etienne Chatton hinzurichten.
Gemeinfrei

Bereits 1874 wird dem staatlichen Töten ein Riegel vorgeschoben, doch 1879 wird es wieder erlaubt. Dann beschliesst das Volk per Abstimmung am 3. Juli 1938 die Abschaffung der Todesstrafe. Doch das wird erst mit dem Inkrafttreten des neuen Strafgesetzbuches wirksam – und so treibt der Kanton Obwalden, wo das Gesetz mit fast 80 Prozent abgelehnt worden ist, den Prozess gegen Vollenweider voran.

Der Schweizer kommt am 11. Februar 1908 im Zürcher Seefeld zur Welt. «Merkwürdigerweise war der junge Hans Vollenweider ein sehr lieber Mensch», erinnert sich Franz Matouschek im Dokumentarfilm «Vollenweider – Die Geschichte eines Mörders» des Schweizer Filmemachers Theo Stich an seinen Mitschüler: «Ich bin immer sehr gut mit ihm ausgekommen. Wir hatten nie Raufereien.»

«Haben sie eine Ahnung davon, wie es einem zumute ist?»

Seine Jugend verläuft nicht gerade rosig: Mit dem achten Lebensjahr beginnen die Geldsorgen seiner Familie. «Der Vater hatte eine einträgliche Stelle verloren», erklärt Vollenweider. Nach dem Abschluss macht Hans in Zürich eine Lehre als Buchhalter und arbeitet bei der Firma bis 1933, bis diese ihn wegen der Wirtschaftskrise in der Schweiz entlässt.

Eine Gruppe von Schweizer Arbeitslosen wartet während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre auf die Abfahrt zu den Seehäfen, um nach Brasilien auszuwandern.
Eine Gruppe von Schweizer Arbeitslosen wartet während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre auf die Abfahrt zu den Seehäfen, um nach Brasilien auszuwandern.
KEYSTONE

Vollenweider investiert sein Erspartes in ein Dorfkino am Bodensee: Kriminalfilme haben es ihm besonders angetan. Er hat eine Schwäche für den Film-Bösewicht «Dr. Mabuse» – doch schwach sind auch die Umsätze. Im April 1934 muss Konkurs angemeldet werden. Dabei will Hans doch nicht so enden wie sein Vater, der auf die Fürsorge angewiesen ist.

Der Super-Bösewicht im Film «Dr. Mabuse – der Spieler» von 1922.
Der Super-Bösewicht im Film «Dr. Mabuse – der Spieler» von 1922.
Gemeinfrei

«Haben sie eine Ahnung davon, wie es einem zumute ist, wenn man trotz besten Willens, trotz aller Anstrengung, alle Pläne in nichts zerrinnen sieht, auf Jahre hinaus keine Existenz sich denken kann?», schreibt er später in seinen Lebenslauf. Doch Hinweise auf eine psychische Störung könne man zu jener Zeit nicht erkennen, attestiert ihm Christian Schwarzenegger.

«Wie ein Blitz aus heiterem Himmel»

Doch als Einzelgänger sei Vollenweider immer mehr an den Rand gedrängt worden, so der Strafrechtsprofessor an der Universität Zürich: «Sein Wertesystem kippt.» Als ein Kollege darüber nachdenkt, die Bank in Bütschwil SG zu überfallen, macht der Zürcher 1935 ernst. Der Raub misslingt, der Täter kann unerkannt fliehen, wird aber verpfiffen.

1934 kommt Hans Vollenweider erstmals mit dem Gesetz in Konflikt und muss beim Polizeifotografen stillsitzen: Wegen unsittlicher öffentlicher Handlungen kommt er 14 Tage ins Gefängnis.
1934 kommt Hans Vollenweider erstmals mit dem Gesetz in Konflikt und muss beim Polizeifotografen stillsitzen: Wegen unsittlicher öffentlicher Handlungen kommt er 14 Tage ins Gefängnis.
Polizeikommando ZH

Im September 1936 soll Vollenweider deswegen zweieinhalb Jahre ins Gefängnis in Regensdorf ZH. Er macht eine Lehre in der Schneiderei, darf 1937 auch ausserhalb der Strafanstalt arbeiten und soll eigentlich 1939 entlassen werden. Doch der Gefängnis-Psychiater ist dagegen: Wegen Rückfallgefahr wird die Haft verlängert.

«Wie ein Blitz aus heiterem Himmel» trifft ihn dieser Schlag, der juristisch jedoch nicht zu beanstanden ist, wie Schwarzenegger verdeutlicht. Als Vollenweider 1939 in den offenen Vollzug Bachtel in Ringwil ZH verlegt wird und hört, dass er dort noch eineinhalb Jahre einsitzen soll, nutzt der Häftling diese Chance zur Flucht.

«Von schräg hinten schoss ich Zwyssig in den Kopf»

Hans nimmt den Zug nach Zürich, stiehlt seinen Eltern 500 Franken und denkt darüber nach, nach Deutschland zu fliehen. Er kauft sich Waffen und heckt einen Plan aus, um an einen neuen Ausweis zu kommen: Per Inserat sucht er einen alleinstehenden Chauffeur und findet einen Arbeitslosen, der ihm entfernt ähnelt.

«Ich erzählte ihm, ich müsse für einen Arzt einen Chauffeur organisieren», berichtet er später im Verhör. Am 14. Juni 1939 holt er das Opfer am Seilergraben in Zürich ab, um mit ihm nach Lausanne zu reisen. «Losgefahren war ich mit dem Gedanken, möglichst schnell zu handeln», so Vollenweider. «Von schräg hinten schoss ich [Hermann] Zwyssig in den Kopf.» Die Leiche versenkt er im Zugersee.

Am 19. Juni fasst der Mörder den Plan, in Zürich einen Postboten zu überfallen – und setzt ihn am Folgetag gegen 8 Uhr in die Tat um. «Ich kam aus meinem Versteck hervor und bin auf ihn zugegangen. Ich hielt ihm die Pistole an die Brust und sagte, er solle ruhig bleiben. Ich drohte, zu schiessen, wenn er mir die Geldtasche nicht aushändige.»

Erst der Postbote, dann der Dorfpolizist

Als Emil Stoll Vollenweider beschimpft, drückt der ab und flieht in seinem gestohlenen dunkelblauen Plymouth nach Luzern: Emil Stoll ist sofort tot. Er hört von einer Stelle im Hotel Engel in Sachseln und lässt sich als Hermann Zwyssig als Portier engagieren. Sein Fehler: Er schreibt einer Zürcher Wäscherei, in der er zwei blutige Hemden abgegeben hat, man möge ihm die Bekleidung nach Sachseln schicken.

Das Gasthaus Engel in Sachseln im Oktober 2015: Der Familienbetrieb empfängt immer noch Gäste.
Das Gasthaus Engel in Sachseln im Oktober 2015: Der Familienbetrieb empfängt immer noch Gäste.
KEYSTONE

Die Wäscherei informiert nun die Zürcher Polizei, die sich wiederum bei Alois von Moos meldet. Der Dorfpolizist von Sachseln soll der Sache auf den Grund gehen. Von Moos ist nervös. Der 23-Jährige nimmt noch einmal seine schlafende Tochter auf den Arm und packt den Revolver ein. Im Hotel berät er sich mit dem Wirt, bevor er zu Vollenweiders Zimmer geht.

Von Moos kontrolliert «Zwyssig» am 23. Juni und spricht ihn auf die Hemden an. «Ich sagte, ich wisse nichts davon», wird Vollenweider zu Protokoll geben. Es kommt zu einem Handgemenge, der Polizist rutscht auf dem Parkett aus – und ein Schuss fällt. Dem Wirt und einem Gast gelingt es, den Schützen zu überwältigen. Von Moos kommt mit einem Bauchschuss ins Spital.

«Kreuzigt ihn»

Dort stirbt er. «Es muss für die damaligen Verhältnisse eine grosse Trauerfeier gewesen sein», sagt Margrit von Moos über die Beerdigung ihres Vaters. Politiker, Polizisten und Bürger*innen geben ihm das letzte Geleit. Die Wut auf den Täter ist gross. Das Volk fordert «Kreuzigt ihn», klagt später vor Gericht sein Anwalt.

Vollenweider führt nach der Verhaftung die Polizei zum Zugersee, wo Zwyssigs Leiche geborgen wird. Er stellt es so dar, als sei der Mord noch im Kanton Zürich passiert: Im Gegensatz zu Zug ist dort die Todesstrafe bereits kantonal abgeschafft. Dann verschiebt er den Tatort auf Langnau BE.

Doch während bei den ersten beiden Morden noch um Klarheit gerungen wird, macht Sarnen OW nun kurzen Prozess – und klagt Vollenweider wegen des Polizistenmordes an. Die Verhandlungen beginnen im September 1940. Die Anklage fordert die Todesstrafe: Vollenweider habe Waffen gekauft, um sich einer Verhaftung zu entziehen, und sie mit Vorsatz und Überlegung benutzt.

Letzter Akt

Als die Verteidigung es so darstellt, als habe der Delinquent «den Kopf verloren», als der gut gebaute Polizist zur Tür hereinkam, antwortet laut Augenzeuge Jost Dillier der Staatsanwalt in Richtung der Richter: «Nein, nein, meine Herren. Der Vollenweider, der hat nicht den Kopf verloren. Aber er wird ihn verlieren.» Ein Raunen geht durchs Publikum.

Das Todesurteil des Obergerichts erfolgt in zweiter Instanz bereits am 12. Oktober 1940. Obwalden bittet Luzern – wie es zuvor zahlreiche andere Kantone gemacht haben – um eine Leihe ihrer Guillotine. Vollenweider stellt derweil ein Gnadengesuch beim Kantonsparlament – wie auch die Witwe des Opfers, die als fromme Christin die «Gnade Gottes» ins Feld führt, um «das Leben des Verirrten» zu schonen.

Vergeblich.

Die Schweizer Militärjustiz hat die Todesstrafe 1992 abgeschafft. Zwischen 1942 und 1944 wurden 17 Personen von Militärgerichten wegen Landesverrats zum Tode verurteilt und erschossen.

Die rund 4 Meter hohe Guillotine, die zuletzt Vollenweider das Leben nahm, im Historischen Museum in Luzern.
Die rund 4 Meter hohe Guillotine, die zuletzt Vollenweider das Leben nahm, im Historischen Museum in Luzern.
Archivbild: KEYSTONE