Von Lehrern veranlasst Eltern besorgt: Immer mehr Schüler müssen zum Hirn-Check

cor

22.2.2018

Wegen Verdachts auf eine Aufmerksamkeitsstörung schicken Lehrer ihre Schüler zur Hirnstrom-Messung. Das verunsichert Eltern – und ist nicht unproblematisch.

Immer öfters empfehlen Lehrpersonen bei einer Vielzahl von Kindern Hirnstrommessungen oder Elektroenzephalogramme (EEG) durchzuführen. So soll abgeklärt werden, ob sie an einer Aufmerksamkeitsstörung wie ADHS leiden. Nadja Meier, Neuropsychologin in der psychiatrisch-psychologischen Praxis Psy-Bern, bestätigt gegenüber «20 Minuten» die zunehmende Nachfrage nach Hirnstrom-Messungen. Sie fügt an: «Die Erkenntnis, dass etwa Konzentrationsprobleme in der Schule mit neurobiologischen Auffälligkeiten zusammenhängen, hat sich je länger, je mehr auch in der Bevölkerung etabliert.» Auch Elena Arici, Geschäftsführerin der Praxis Lernwerk, weiss: «Jährlich nimmt die Nachfrage nach Nerofeedbacks um zehn Prozent zu.»

Der klinische Psychologe und Psychotherapeut Francois Gremaud empfängt deshalb immer wieder aufgelöste Eltern. Rate die Schule zu einer Hirnstrommessung, sei das für manche Eltern ein Schock – und deshalb nicht unproblematisch: «Das Gehirn ihres Kindes untersuchen lassen zu müssen, kränkt sie und lässt manche zu Unrecht sogar glauben, ihr Kind sei behindert und müsse in eine Sonderschule wechseln», wird er zitiert. Zu Unrecht, weil sich der ADHS-Verdacht oft als unbegründet herausstelle.

Ängste, Unsicherheit und falsche Vorwürfe

Vor voreiligen ADHS-Abklärungen warnt auch Familientherapeut Jürgen Feigel: «Wird Eltern bei jeder Auffälligkeit ihres Kindes eine Hirnstrommessung nahegelegt, löst das grosse Ängste aus.» Und zwar, so sagt er zu «20 Minuten», weil viele Eltern deswegen den Eindruck hätten, ihr Kind sei behindert oder abnormal, oder sich Vorwürfe machen, etwas falsch gemacht zu haben. Feigel ist skeptisch gegenüber der Tendenz zu immer mehr Therapien, die von Lehrern empfohlen werden. Denn oft hätten die Konzentrationsstörungen auch mit den neuen Medien zu tun und eventuell auch mit ungesunder Ernährung.

Ausserdem darf ein weiterer Faktor nicht ignoriert werden, wie Beat W. Zemp, Präsident des Dachverbands Lehrerinnen und Lehrer Schweiz, betont, und zwar, dass Empfehlungen zu Hirnscans nicht zum Auftrag einer Lehrperson gehören. Die Aufgabe der Lehrer sei es, Beobachtungen mitzuteilen. «Alles Weitere ist Sache von Schulpsychologen und Ärzten», so Zemp.

Abklärung oft zu Unrecht

Zwar verordne auch der Kinderarzt oder Psychiater dem Kind in den meisten Fällen eine Hirnstrommessung, wie Nadja Meier informiert, zuvor erfolge jedoch etwa aufgrund von psychischen Problemen, Verhaltensauffälligkeiten oder schulischen Schwierigkeiten eine psychiatrische Abklärung.

Laut Meier führt ein EEG als Ergänzung zur herkömmlichen ADHS-Abklärung in rund 80 Prozent der Fälle zu einer ADSH-Diagnose. Bei Rest hätten Lehrer zu Unrecht eine Aufmerksamkeitsstörung vermutet, weil sie die Probleme der Schüler falsch verstanden hätten.

So verhielten sich viele Kinder manchmal beispielsweise nur deshalb unruhig, weil die Kasse laut sei oder die Lehrperson mit ihrem Verhalten nicht umgehen könne. Oder, fügt sie an: «Oft bemerken Eltern auch nicht, dass das Kind unkonzentriert arbeitet, weil es unter der Scheidung oder dem Leistungsdruck leidet.»

TV-Tipp

Auf 3sat läuft am Donnerstag, 22. Februar, um 20:15 Uhr «ADHS - ein Leben lang». Im Anschluss folgt «Scobel» zum Thema «Trügerische Diagnosen». Mit Swisscom TV Replay können Sie die Sendungen bis zu sieben Tage nach der Ausstrahlung anschauen.

Bilder aus der Schweiz
Zurück zur Startseite