Kernfusion Künstliche Intelligenz hält Plasma in Fusionsreaktor in Schach

stsc, sda

16.2.2022 - 17:00

Mit einem neu entwickelten KI-Algorithmus lässt sich das ultraheisse Plasma in einem Kernfusionsreaktor steuern: Plasma im Inneren des Tokamak-Reaktors der EPFL.
Mit einem neu entwickelten KI-Algorithmus lässt sich das ultraheisse Plasma in einem Kernfusionsreaktor steuern: Plasma im Inneren des Tokamak-Reaktors der EPFL.
Keystone

Forscher der EPFL und von Deepmind haben einen auf künstlicher Intelligenz (KI) beruhenden Algorithmus entwickelt, der das ultraheisse Plasma in einem Kernfusionsreaktor kontrolliert. Das könnte die Energieerzeugung in Fusionsreaktoren künftig maximieren, hoffen sie.

stsc, sda

Von der Kernfusion erhoffen sich viele Fachleute eine saubere Energieform für die Zukunft. Dabei verschmelzen Wasserstoff-Atome, wie es auch in der Sonne geschieht. Ein Wasserstoffplasma wird dazu auf über hundert Millionen Grad Celsius erhitzt, wodurch Teilchen ihre elektrische Abstossung überwinden und zu schwereren Kernen wie Helium verschmelzen. Dabei werden enorme Mengen an Energie freigesetzt.

Eine zu überwindende Hürde für die Nutzung dieser Energiequelle ist, dass das heisse Plasma von extremen Magnetfeldern berührungsfrei in der Brennkammer eingesperrt und in der Schwebe gehalten werden muss. Denn wenn das Plasma die Gefässwände berührt, kühlt es sofort ab.

Gezielte Magnetspulen-Steuerung

Wissenschaftler der ETH Lausanne (EPFL) und der auf künstliche Intelligenz spezialisierten Google-Schwester Deepmind sind bei der Kontrolle dieser Plasmabrühe nun einen Schritt vorangekommen: Sie entwickelten und testeten einen selbstlernenden Algorithmus, der herausfindet, wie die Magnetspulen gesteuert werden müssen, um eine bunte Palette an Plasmakonfigurationen hervorzubringen. Davon berichten sie am Mittwoch im Fachblatt «Nature».

Trainiert und getestet wurde der Algorithmus am experimentellen Tokamak-Kernfusionsreaktor des EPFL-Zentrums für Plasmaforschung. Bei diesem Typ Fusionsreaktor wird der Magnetkäfig für das Plasma durch drei sich überlagernde Magnetfeder aufgebaut.

Schneeflocken-Plasma

Wie die Forscher berichten, steuerte der Algorithmus die Magnetfelder so, dass nicht nur konventionelle, längliche Plasmaformen entstehen konnten, sondern auch solche, die Dreiecken und Schneeflocken ähnelten. Auch gelang es, zwei Plasmen getrennt und gleichzeitig in Schwebe zu halten. Das sei etwas, das im Lausanner Tokamak-Reaktor zuvor noch nie gelungen sei, betonte EPFL-Forscher Federico Felici, einer der Hauptautoren, gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA.

Laut einer Mitteilung von Deepmind werde der Ansatz dazu beitragen, «die Art und Weise zu verbessern, wie wir künftige Fusionsreaktoren entwerfen und betreiben». Die Forscher schreiben von einer Maximierung der Reaktorleistung.

Thomas Sunn Pedersen vom Max-Planck-Institut für Plasmaphysik, der nicht an der Arbeit beteiligt war, bestätigte auf Anfrage, dass die Ergebnisse dem maschinellen Lernen die Tür öffnen würden, um «die Entwicklung der Fusionsenergie für die Menschheit erheblich zu beschleunigen». Er bezeichnet den Artikel als einen «echten Durchbruch bei der Anwendung des maschinellen Lernens im Fusionskontext». Der Ansatz biete etwa die Möglichkeit, komplizierte Berechnungen viel schneller zu machen, so dass sie für die Echtzeitsteuerung existierender Experimente verwendet werden könne.

Unerschöpfliche Energiequelle?

Erst vergangene Woche hatten Physiker einen Energieweltrekord in der Kernfusions-Versuchsanlage JET (Joint European Torus) in der britischen Grafschaft Oxfordshire aufgestellt. Sie setzten während eines fünf Sekunden dauernden Plasma-Pulses 59 Megajoule Energie in Form von Wärme frei. Der Rekord lag bis dahin bei 21,7 Megajoule.

Derzeit wird in Südfrankreich der Testreaktor «Iter» gebaut, der auf dem Tokamak-Prinzip beruht. Er soll die wissenschaftliche und technologische Machbarkeit der Fusionsenergie demonstrieren.

Befürworter erhoffen sich von der Kernfusion eine nahezu unendlich verfügbare Energiequelle ohne klimaschädliche Emissionen oder das Risiko einer Kernschmelze wie in Atomkraftwerken. Für Kritiker ist Iter hingegen schlicht zu teuer, und Energie aus der Kernfusion ohnehin erst zu spät verfügbar.

Felici bestätigt, dass die Kernfusion für die unmittelbaren Ziele zur Verringerung der CO2-Emissionen zu spät kommen würde, dafür müsse sich auf erneuerbare Energien konzentrieren. Aber: «Sie hat das Potenzial, in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts eine Grundversorgung für die Stromerzeugung zu bieten, die es uns ermöglichen würde, alle verbleibenden fossilen und Kernspaltungskraftwerke langfristig stillzulegen», so der Forscher.

https://www.nature.com/articles/s41586-021-04301-9