75 Jahre Nürnberger ProzesseJustizgeschichte mit zwölf Todesurteilen
Von Michael Donhauser, dpa/uri
20.11.2020
Mit den Nürnberger Prozessen arbeitet die Justiz der Siegermächte die Nazi-Verbrechen juristisch auf. Bis heute haben die Prinzipien von damals grossen Einfluss auf die internationale Strafjustiz.
Der Nürnberger Justizpalast war wie gemacht für die Amerikaner. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkriegs lag er in ihrer Besatzungszone, die Gefangenen konnten aus der benachbarten Untersuchungshaftanstalt direkt in den Gerichtssaal geführt werden. Und Nürnberg hatte als früherer Austragungsort von Adolf Hitlers Schau-Parteitagen auch noch jede Menge Symbolcharakter.
Schnell war die Entscheidung klar: Der Nazi-Nomenklatura von Hermann Göring bis Rudolf Hess sollte in Nürnberg der Prozess gemacht werden. Die Sowjetunion – Moskau hatte nach Darstellung von Historikern eher einen «kurzen Prozess» mit vorherbestimmten Todesurteilen im Sinn – stimmte nach erstem Zögern zu – unter der Bedingung, dass der offizielle Sitz des Internationalen Militärgerichtshofes Berlin sein musste, Nürnberg nur der Austragungsort.
Was sich im Nürnberger Justizpalast – im historischen Saal 600 öffentlich und in mehr als 500 Büroräumen hinter verschlossenen Türen – vom 20. November 1945 an über ein Jahr abspielte, sollte zum grössten Beispiel der internationalen Strafgerichtsbarkeit in der Geschichte werden. Insgesamt 13 Prozesse gegen Kriegsverbrecher der Nationalsozialisten wurden aufgerufen.
22 Männer auf der Anklagebank
Allein im Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher sassen 22 Männer auf der Anklagebank. Die Namensliste liest sich wie das Who-is-Who von Hitlers Vasallen – von Reichsmarschall Hermann Göring über Hitler-Stellvertreter Rudolf Hess bis zu NS-Aussenminister Joachim von Ribbentrop. Als das Gericht zum Auftakt Filmdokumente über die Nazi-Gräuel zeigen liess, wandten sich die Verantwortlichen, die allesamt auf «nicht schuldig» plädiert hatten, ab. «Ich glaube es nicht», sagte Hitler-Stellvertreter Hess.
Heraus kamen am Ende zwölf Todesurteile. Zehn von ihnen wurden am 16. Oktober 1946 in der Sporthalle des Nürnberger Zellengefängnisses vom US-Henker John Woods vollstreckt. Der Leiter der NS-Parteikanzlei, Martin Bormann, war in Abwesenheit verurteilt worden und hatte – wie erst Jahrzehnte später endgültig geklärt werden konnte – ohnehin schon 1945 Suizid begangen. Göring vergiftete sich wenige Stunden vor seiner geplanten Hinrichtung. Sieben der Angeklagten erhielten langjährige, teils lebenslange Haftstrafen, die sie in Berlin-Spandau absassen. Rudolf Hess war jahrelang der einzige und letzte Häftling – er erhängte sich im Alter von 93 Jahren im Jahr 1987.
Nürnberg, unmittelbar nach dem Krieg – das sollte in die Justizgeschichte eingehen. Erstmals überhaupt wurden Politiker für ihre Machenschaften persönlich strafrechtlich zur Rechenschaft gezogen. Die Nürnberger Prinzipien, auf denen der Internationale Militärgerichtshof (IMG) aufgebaut war, wurden wenig später von den Vereinten Nationen geadelt. Auf ihnen fussten seitdem alle internationalen Strafgerichtshöfe.
Die Geschichte schon damals im Blick
Der Vorsitzende Richter Robert H. Jackson, ehemals Richter am Supreme Court der USA in Washington, hatte schon damals diese Vision: «Denn wir dürfen niemals vergessen, dass nach dem gleichen Mass, mit dem wir die Angeklagten heute messen, auch wir morgen von der Geschichte gemessen werden», sagte er zum Auftakt des Prozesses. «Diesen Angeklagten einen vergifteten Becher reichen, bedeutet, ihn an unsere eigenen Lippen zu bringen. Wir müssen an unsere Aufgabe mit so viel innerer Überlegenheit und geistiger Unbestechlichkeit herantreten, dass dieser Prozess einmal der Nachwelt als Erfüllung menschlichen Sehnens nach Gerechtigkeit erscheinen möge.»
Überall, wo in international besetzten Gerichten etwa Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden – die Rechtsgrundlagen gehen auf Nürnberg zurück. In Den Haag, wo unter anderem Jugoslawiens Ex-Staatschef Slobodan Milošević auf der Anklagebank sass, genauso wie im afrikanischen Ruanda. Allzu oft habe aber nach Nürnberg noch die politische Macht über das Recht gesiegt. Dennoch: «Angesichts der Erwartungen, die man heutzutage in die Tätigkeit internationaler Tribunale setzt, lohnt sich der Blick zurück auf ein Geschehen, welches das Völkerrecht gleichwohl ein entscheidendes Stück weiterbrachte, nämlich in die Richtung der personalen Verantwortlichkeit führender Militärs, Politiker und Wirtschaftsführer gewalttätiger Regime», schrieb der frühere Landgerichtspräsident, Rechtsprofessor und Buchautor Klaus Kastner.
Katerstimmung nach dem letzten Richterspruch
So gross die Nachwirkung der Prozesse heute ist, so sehr herrschte unmittelbar nach dem letzten Richterspruch Katerstimmung. Eine gewisse «Leere» sei nach dem Urteilsspruch eingetreten, Ernüchterung geradezu, notierte die berühmt gewordene US-Kriegsreporterin Martha Gellhorn, eine von Hunderten Prozess-Berichterstattern aus aller Welt, die nach Nürnberg gereist waren. «Natürlich musste es so sein, denn für solch eine Schuld war keine Strafe gross genug.»
Der berühmte Saal 600 im Justizpalast, den die Amerikaner erst zur «Texas Bar» – eine Inschrift zeigte unmittelbar vor Beginn der Prozesse noch den Bierpreis von einer halben Mark – und dann zum Schauplatz für ein Stück Weltgeschichte gemacht hatten, schrieb erst etwas später in Hollywood Filmgeschichte. Vor allem die Verfilmung eines Nachfolgeprozesses unter dem Titel «Urteil von Nürnberg» mit Spencer Tracy in der Hauptrolle des US-Richters Dan Haywood wurde weltberühmt. Maximilian Schell bekam für seine Rolle als Verteidiger Hans Rolfe einen Oscar.
In Deutschland selbst blieben die Prozesse zunächst ohne grossen Widerhall. Das deutsche Volk, geschlagen und beschämt, schien genug zu haben von der Aufarbeitung des endlich überwundenen NS-Regimes und des Krieges. Es blieb jahrzehntelang der Justiz überlassen, die historisch bedeutsamen Prozesse aufzuarbeiten. Erst seit 2010 gibt es unter der Regie der Museen der Stadt Nürnberg eine Dauerausstellung im Justizpalast, die die Geschichte für Interessierte erlebbar macht. 80'000 Menschen – viele davon aus dem Ausland – machen jedes Jahr von dieser Möglichkeit Gebrauch.
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