Menschheitsrätsel Als sie das «gottverdammte Teilchen» endlich gefunden hatten

stsc, sda

4.7.2022 - 16:00

Vor zehn Jahren wurde das lang gesuchte Higgs-Teilchen experimentell in den Überresten von Teilchenkollisionen nachgewiesen.
Vor zehn Jahren wurde das lang gesuchte Higgs-Teilchen experimentell in den Überresten von Teilchenkollisionen nachgewiesen.
Keystone

Einen Namen hatte es schon lange – nur nachweisen konnte es niemand: Am 4. Juli 2012 gelang Physikern am Cern bei Genf der Nachweis des letzten fehlenden Elementarteilchens Higgs-Boson.

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Vor zehn Jahren hatte das Cern in Zusammenarbeit mit Forschungslaboren und Universitäten auf der ganzen Welt eines der grössten physikalischen Rätsel der Gegenwart gelöst. Die mehrere Jahrzehnte dauernde Suche nach dem letzten bislang nicht nachgewiesenen Teilchen im Standardmodell der Elementarteilchenphysik schien zu Ende.

«Ich glaube, wir haben es», sagte der damalige Cern-Generaldirektor Rolf Heuer am 4. Juli 2012. Das neu beobachtete Teilchen war demnach konsistent mit dem Higgs-Boson.

Auch ein «gottverdammtes Teilchen»

Dieses Teilchen ist äusserst schwer zu fassen. Der Physiknobelpreisträger Leon Ledermann soll es einmal als «goddamn particle» («gottverdammtes Teilchen») bezeichnet haben. Denn das Higgs zerfällt so schnell, dass es jeglicher Detektion entgeht. Nachweisen lassen sich in den Überresten der hochenergetischen Teilchenkollisionen im Large Hadron Collider (LHC) nur seine Zerfallsprodukte.

Seit der Entdeckung des Higgs-Bosons halten Physiker Ausschau nach Zerfällen, die im Standardmodell nicht existieren – und somit Hinweise auf eine neue Physik geben. Als «mögliches Portal zur neuen Physik» bezeichnet Andreas Hoecker das Higgs-Teilchen gegenüber der Nachrichtenagentur Keystone-SDA denn auch. Er ist Sprecher der Forschungskollaboration Atlas, einem der vier grossen Teilchendetektoren am LHC.

Higgs verleiht Masse

Nur ein Sekundenbruchteil nach dem Urknall kondensierte das Higgs-Feld im sich abkühlenden Universum – und seither verleiht es allen Elementarteilchen, die direkt mit ihm wechselwirken, eine Masse. «Ohne das Higgs-Feld wäre unser Universum ein komplett anderer Ort», sagt Hoecker.

Der entsprechende Higgs-Mechanismus wurde bereits Jahrzehnte vor dem experimentellen Nachweis des Teilchens theoretisch vorhergesagt – unabhängig voneinander von Peter Higgs, François Englert und dessen inzwischen verstorbenem Kollegen Robert Brout. Der Mechanismus besagt: Je stärker ein Teilchen mit dem Higgs-Feld wechselwirkt, desto grösser ist seine Masse. Das ist eine der wichtigsten Vorhersagen des Standardmodells.

Dunkle Materie bei Higgs-Zerfall?

Nach heutigen Erkenntnissen hält sich das Higgs-Teilchen brav an die Regeln des Standardmodells, der bislang unfehlbaren und zweifellos erfolgreichsten Theorie zur Beschreibung des Universums. Dennoch ist die Theorie lückenhaft.

Dunkle Materie, für die es grosse Evidenz aus astronomischen und kosmologischen Beobachtungen gibt, kommt darin beispielsweise nicht vor. Dies, obschon sie etwa 25 Prozent des sichtbaren Universums ausmacht und fast sechsmal mehr Masse als sichtbare Materie hat.

Tatsächlich wäre es durchaus möglich, dass das Higgs-Teilchen im LHC auch in dunkle Materieteilchen zerfällt. «Da Dunkle Materie mit nichts wechselwirkt, also auch nicht mit unserem Teilchendetektor, brauchen wir Tricks, um solche Zerfälle nachzuweisen», sagt der Physiker Hoecker.

Der LHC erfuhr in den vergangenen drei Jahren ein Upgrade und wird nun mit noch höherer Energie und Intensität laufen, was die Datenausbeute entsprechend erhöht. «Vielleicht werden wir dann genug Daten sammeln können, um den Higgs-Zerfall in Dunkle Materie indirekt nachweisen zu können», hofft Hoecker.

Der «heilige Gral»

Der «heilige Gral» der Higgs-Forschung liegt laut dem Physiker allerdings darin, die Form des sogenannten Higgs-Potentials zu ergründen. Dies ist zentral, um den Ursprung des Higgs-Mechanismus zu verstehen, dem eine fundamentale Rolle in der Geschichte des Universums zukommt.

«Im Standardmodell hat das Energie-Potenzial des Higgs-Feldes die Form eines Sombrero-Huts», erklärt Hoecker. Bestätigt wurde dies allerdings noch nicht. Teilweise verifizieren liesse sich die Hypothese, wenn man genauer wüsste, wie zwei Higgs-Bosonen miteinander wechselwirken. Deshalb suchen Physiker nach Kollisionen, in denen zwei Higgs-Teilchen entstehen. Nur: «Zwei Higgs-Bosonen gleichzeitig lassen sich noch tausendmal seltener beobachten als ein einziges», sagt Hoecker.

Er rechnet denn auch damit, dass für des Rätsels Lösung mindestens das weitere Upgrade des LHC nötig sein wird, um die Chance auf die Beobachtung solch seltener Ereignisse zu erhöhen und statistisch robuste Aussagen zum Higgs-Potential machen zu können. Ab 2029 soll die Maschine als «High-Luminosity LHC» mit nochmals deutlich höherer Intensität und etwas höherer Energie laufen als bis jetzt.

Ob sich dann eine Antwort darauf finden wird, was die Welt im Innersten zusammenhält?