Besetzung Tibets Vor 70 Jahren hat sich China das Reich des Dalai Lama einverleibt

Von Sven Hauberg

23.5.2021

Eine Kolonne chinesischer Soldaten marschiert im Dezember 1950 durch Tibet.
Eine Kolonne chinesischer Soldaten marschiert im Dezember 1950 durch Tibet.
Bild: Keystone

Es war der Anfang vom Ende des alten Tibets: Vor 70 Jahren wurde in Peking ein Abkommen unterzeichnet, das das Schicksal des Daches der Welt für immer ändern sollte.

Von Sven Hauberg

23.5.2021

Es kommt selten vor, dass man der chinesischen Staatspropaganda zustimmen möchte. Dass aber der 23. Mai 1951, wie es die staatliche Nachrichtenagentur Xinhua unlängst in einem Kommentar schrieb, für Tibet «ein neues Kapitel eröffnete», das ist unbestritten. An jenem Tag vor 70 Jahren wurde in Peking das sogenannte «17-Punkte-Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets» unterzeichnet. Auf rund zwölf Seiten besiegelte das Dokument das Schicksal von Millionen Menschen, Tibet war danach nicht mehr das Land, in das der Dalai Lama 16 Jahre zuvor hineingeboren worden war.

Der Anfang vom Ende Tibets kam mit der Ausrufung der Volksrepublik China am 1. Oktober 1949. Wenig später verkündete Radio Peking: «Die Volksbefreiungsarmee muss alle chinesischen Gebiete befreien, inklusive Tibet.» Den Worten folgten bald Taten, und Zehntausende chinesische Soldaten marschierten im Oktober des Folgejahres in Tibet ein.



Im April 1951 wurde eine Delegation des Dalai Lama nach Peking geladen, um unter Führung eines tibetischen Ministers über die Zukunft Tibets zu verhandeln. Dort wurde sie am 23. Mai zur Unterzeichnung jenes Abkommens gezwungen, das Tibet endgültig an China band. Der Dalai-Lama, der die Delegation zu diesem Schritt nicht befugt hatte, lehnt das Abkommen bis heute ab.

Rückkehr «in den Schoss der grossen Familie»

«Das tibetische Volk wird in den Schoss der grossen Familie der Volksrepublik China zurückkehren», heisst es voller Pathos zu Beginn des Abkommens vom 23. Mai. Und so sieht das die Volksrepublik China bis heute: dass Tibet schon immer Teil Chinas gewesen sei und in jenen Tagen vor 70 Jahren zusammenwuchs, was schon immer zusammengehörte.

Unter Historikern ist diese Sichtweise freilich höchst umstritten, schliesslich waren die beiden Nachbarn China und Tibet über Jahrhunderte mal Gegner, mal Verbündete, mal herrschte Tibet über China, mal umgekehrt. Was nach Gründung der Volksrepublik in Tibet geschah, war nach Meinung westlicher Beobachter eine Besetzung, keine Befreiung.



Auch der Deutsche Bundestag sieht das so. Vor wenigen Tagen erst erklärte der Ausschuss für Menschenrechte, dass das Abkommen vom 23. Mai «die De-facto-Unabhängigkeit Tibets» beendet habe. Überhaupt: Welche Gültigkeit kann ein Vertrag haben, der unter Zwang abgeschlossen wird? Eine Wahl liess China den Tibetern nicht.

Friedlich war der Anschluss Tibets an Peking sowieso nicht. Hunderttausende starben nach dem Einmarsch Chinas, vor allem in den dunklen Jahren der Kulturrevolution, die in Tibet von 1966 bis zum Tod Mao Zedongs zehn Jahre später wütete. Der Dalai Lama hat sein Geburtsland längst verlassen, seit einem blutig niedergeschlagenen Volksaufstand 1959 lebt der heute 85-Jährige im indischen Exil.

Desolate Menschenrechtslage

Jahrzehnte nach dem Einmarsch der Chinesen ist die Menschenrechtslage in Tibet noch immer desolat. Dabei war das 17-Punkte-Abkommen von den Chinesen eigens dazu initiiert worden, das zu ändern: Das vermeintlich rückständige Tibet sollte von den chinesischen Kommunisten in eine strahlende Zukunft geführt werden. Den Tibetern wurde Religionsfreiheit zugesichert, die Befugnisse des Dalai Lama sollten unangetastet bleiben, die tibetische Sprache gefördert werden. Reformen, so heisst es in dem Text, würden «ohne Zwang» durchgeführt.

Im Jahr 2021 ist Tibet noch immer eine der ärmsten Provinzen Chinas. Erfolg hat nur, wer Chinesisch spricht; das Tibetische wird in den Schulen immer seltener gelehrt. Der Sozialwissenschaftler Adrian Zenz glaubt gar, dass es in Tibet heute Masseninhaftierungslager gibt, wie sie auch in Xinjiang existieren. Die Tibeter sollten dort politisch indoktriniert werden und Chinesisch lernen, so Zenz. Die chinesische Regierung begründe die Massnahmen mit der Bekämpfung der Armut in Tibet. Tatsächlich gehe es Peking aber «um das Ende traditioneller Lebensformen», sagte Zenz der «Süddeutschen Zeitung».



Wie es wirklich aussieht in Tibet, ist schwer zu sagen. Nicht erst seit Ausbruch der Corona-Pandemie lässt Peking ausländische Besucher und Touristen nur selten ins Land. Was nach aussen dringt, das sind vor allem Berichte geflüchteter Tibeter. So berichtete etwa unlängst Radio Free Asia, in Teilen Tibets seien neuerdings religiöse Symbole in den Schulen verboten.

Im kommenden Jahr sollen in China die Olympischen Winterspiele stattfinden. Auch aufgrund der Lage in Tibet werden immer wieder Rufe nach einem Boykott des Sportereignisses laut. Peking aber gibt sich unbeeindruckt. Alle Versuche aus dem Ausland, den Tibetern zur Unabhängigkeit zu verhelfen, ereiferte sich die chinesische Nachrichtenagentur Xinhua in ihrem Kommentar zum Jahrestag des 17-Punkte-Abkommens, «haben sich als vergeblich erwiesen».