Grosser Rat AG Aargauer Parlament lenkt ein: Sozialhilfe wird nicht umgekrempelt

ga, sda

3.5.2022 - 09:50

Das Aargauer Kantonsparlament will nun doch keinen Systemwechsel bei der Sozialhilfe. (Symbolbild)
Das Aargauer Kantonsparlament will nun doch keinen Systemwechsel bei der Sozialhilfe. (Symbolbild)
Keystone

Die Sozialhilfe im Kanton Aargau wird nicht umgebaut. Nach dem Regierungsrat hat sich auch der Grosse Rat am Dienstag einstimmig gegen Änderungen ausgesprochen. Der von der bürgerlichen Mehrheit im Parlament zunächst unterstützte Systemwechsel sei nicht umsetzbar, hiess es.

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Der Grosse Rat hatte 2017 und 2018 zwei Postulate überwiesen, die einen Systemwechsel in der Sozialhilfe fordern. So soll die Höhe der Sozialhilfe künftig davon abhängen, wie lange eine Person bereits Sozialversicherungsbeiträge geleistet und Steuern bezahlt hat.

Mit diesem Vorgehen sollten ältere Arbeitslose in der Sozialhilfe besser behandelt werden als Personen, die in der Schweiz noch nicht gearbeitet haben.

Im zweiten überwiesenen Postulat wurde eine Abstufung bei der Sozialhilfe je nach Engagement, Integrationswille und Motivation der Sozialhilfe beziehenden Personen gefordert. Zu Beginn des Bezugs sollten alle bedürftigen Personen eine reduzierte Sozialhilfe erhalten, die 70 Prozent des heutigen Grundbedarfs entspricht.

Beide Vorstösse stammten aus den Reihen von SVP, FDP und Die Mitte. Eine treibende Kraft war die heutige SVP-Nationalrätin Martina Bircher.

Parlament krebst zurück

Der Regierungsrat lehnte die Umsetzung der Forderungen in einem umfangreichen Analysebericht ab. Der mögliche Nutzen eines Systemwechsels stehe nicht in einem angemessenen Verhältnis zu den erwarteten Kosten und Aufwendungen einer Umsetzung. Es gebe auch Widersprüche zur Verfassung und zu Gesetzen.

Ein SP-Sprecher wies in der Debatte darauf hin, es handle sich um ungerechte Vorstösse zum Abbau der Sozialhilfe. Die Vorstösse seien «Wölfe im Schafspelz», um Arme auszugrenzen. Daher sei man von Anfang an gegen die Forderungen gewesen. Nun würden sogar die Rechtsbürgerlichen von den Forderungen abrücken.

Die Grünen wünschten sich eine endlich «faktenbasiertere Diskussion». Man müsse mit dem «unsäglichen Nach-unten-Treten» endlich aufhören.

Der Sprecher der Mitte sagte, es brauche auch im Parlament einen «sozialen Frieden». Das Parlament müsse künftig auf der Basis von Rechtsgrundlagen diskutieren. Notwendig sei eine Rückkehr zur Sachlichkeit.

Ein SVP-Sprecher bedankte sich für den Bericht. Motivation statt Sanktion wäre zwar richtig, sagte er. Der Aufwand wäre jedoch grösser als der Ertrag. Der Handlungsspielraum in der Sozialhilfe sei überprüft worden, hielt eine FDP-Sprecherin fest.

EVP und GLP stützten die Abschreibung der Vorstösse ebenfalls. Sozialhilfe zu beziehen, sei kein Verbrechen und man müsse sich dafür nicht schämen, hielt ein GLP-Sprecher fest. Die Beziehenden dürften nicht ausgegrenzt werden.

Die Stossrichtung, die Grundrichtung der beiden Vorstösse sei politisch falsch, sagte der zuständige Regierungsrat Jean-Pierre Gallati (SVP). Die Idee würde nicht funktionieren. Der Gedanke der Motivation müsse jedoch gestärkt werden.

Der Grosse Rat beschloss, die beiden früher an den Regierungsrat überwiesenen Postulate abzuschreiben. Der Entscheid fiel mit 122 zu 0 Stimmen. Das bedeutet, dass die in den Postulaten erhobenen Forderungen nicht mehr auf dem Tisch liegen.

Auslegeordnung des Regierungsrats

Im mehr als 100-seitigen Bericht des Regierungsrats hiess es: «Insgesamt ist es fraglich, ob der geforderte Systemwechsel überhaupt einen zusätzlichen Nutzen hätte.»

Der Systemwechsel würde dazu führen, dass die betroffenen Menschen in der Sozialhilfe weniger Geld für den Lebensbedarf hätten. Dies könne ihre gesellschaftliche Teilhabe, ihre Gesundheit sowie ihre soziale und berufliche Integration beeinträchtigen.

Es könne auch zu Widersprüchen zum geltenden Recht kommen. Dabei würden die in der Bundesverfassung und in internationalen Übereinkommen verankerten Grund- und Menschenrechte tangiert, hiess es im Bericht. Zahlreiche Ausnahme- und Sonderregelungen für spezifische Gruppen wie etwa Menschen mit Behinderung oder Flüchtlinge müssten berücksichtigt werden.

Schraube wurde schon angezogen

Hinzu komme, dass in den vergangenen Jahren der Bund und der Aargau verschiedene Massnahmen mit einer ähnlichen Wirkung umgesetzt hätten. So habe der Bund 2021 Überbrückungsleistungen für ältere Arbeitslose eingeführt, um zu verhindern, dass sie sozialhilfeabhängig würden.