Die Staatsanwältin im Winterthurer An'Nur-Prozess hat am Dienstag in ihrem Plädoyer klar gemacht, worum es ihr in diesem Fall geht: Man müsse ein Zeichen setzen gegen Schattensysteme, die sich über den Schweizer Rechtsstaat hinwegsetzten. Die Anwälte der Gläubigen bezeichneten die Vorwürfe als Erfindung von Medien und Justiz.
"Wir führen einen Prozess gegen Menschen, die ihre Religion über das Rechtssystem in diesem Land stellen", sagte die Staatsanwältin in ihrem Plädoyer. Dies sei nicht zu akzeptieren.
In diesem Land gebe es keinen Raum für Schattensysteme. Und es gebe keinen Platz für Selbstjustiz gegen angebliche "Verräter" einer Religion. Hier habe immer noch der Staat die Strafhoheit, nicht eine Gruppe, die sich in ihrer religiösen Weltanschauung verletzt fühlt.
Die Staatsanwältin fordert für die acht jungen Muslime, ihren Imam und den Vereinspräsidenten teilbedingte Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren. Die Ausländer unter ihnen sollen zudem für 10 Jahre des Landes verwiesen werden.
Einen Härtefall, der eine Abschiebung verunmöglichen würde, erkennt sie bei den Betroffenen nicht. Auch der 26-jährige Afghane könne in seine Heimat zurückgeschafft werden. Kabul gelte mittlerweile als sicher, so die Staatsanwältin. Der Imam müsste zurück nach Libyen, wo er nach wie vor Grundbesitz und Verwandtschaft hat.
Den zehn tief gläubigen Muslimen wird vorgeworfen, im November 2016 zwei vermeintliche "Spitzel" verprügelt, mit dem Tod bedroht und eingesperrt zu haben. Sie waren überzeugt, dass die beiden einem Journalisten Film- und Fotoaufnahmen aus der Moschee verkauft hatten.
Mit Hilfe dieser Aufnahmen wurde ein 25-jähriger äthiopischer Vorbeter schliesslich vom Bezirksgericht Winterthur verurteilt und für 10 Jahre des Landes verwiesen. Er hatte in einer Predigt zu Gewalt an "schlechten Muslimen" aufgerufen.
Nur geredet, nicht geprügelt
Die Beschuldigten streiten jedoch alle Vorwürfe ab. Sie hätten lediglich mit den beiden geredet. Vereinzelte unter ihnen hätten sie zwar angespuckt und beleidigt. Zu Gewalt sei es aber nicht gekommen.
Diese Aussagen seien alle unglaubwürdig, sagte die Staatsanwältin. Es sei um Rache und Bestrafung gegangen. Als Mob mit aggressiver Gruppendynamik seien sie auf die beiden "Verräter" losgegangen.
Der Vereinspräsident und der Imam hätten es in ihrer Funktion als Respektspersonen eigentlich in der Hand gehabt, den Mob zu beruhigen, so die Staatsanwältin weiter. Dies hätten sie aber nicht getan. Stattdessen hätten sie die beiden im Büro eingesperrt, ein Geständnis aus den Opfern herausgepresst und es aufgenommen.
Sieben Mal die Wohnung gewechselt
Der Geschädigte, der durch einen Faustschlag eine Hirnerschütterung davontrug, leidet gemäss Anwalt bis heute. Er sei zwei Jahre nach dem Angriff immer noch im Gewaltschutzprogramm der Polizei, habe bis jetzt sieben Mal die Wohnung gewechselt und fühle sich nach wie vor nicht sicher in seinen vier Wänden. Er fürchte sich vor Racheakten.
Der Anwalt fordert von den Beschuldigten, dass sie dem Nordafrikaner solidarisch 20'000 Franken Genugtuung und 118'000 Franken Schadenersatz zahlen. Der andere Geschädigte, der schliesslich die Polizei informierte, stellt keine Forderungen. Er möchte lieber nichts mehr mit der Sache zu tun haben.
"Kein Teil der Salafisten-Szene"
Die zwei ersten Anwälte, die am Dienstag ihren Auftritt hatten, versuchten, die ganze Anklage als Lügengebilde darzustellen. Sein Mandant sei ein normaler Jugendlicher mit guten Schulnoten, sagte der erste Verteidiger. "Er weiss nicht mal, was ein Salafist ist." Sein Mandant werde völlig zu Unrecht in diesen Dunstkreis gezerrt.
Er habe eines der angeblichen Opfer zwar beleidigt und angespuckt, was mit "jugendlichem Testosteron" zu erklären sei. Er habe aber niemandem Verletzungen zugefügt. Der zweite Anwalt kritisierte vor allem die mediale Vorverurteilung. Es seien regelrechte Hassartikel gegen die An'Nur-Moschee veröffentlicht worden.
Die Beschuldigten seien als Radikale und Schlägertrupp dargestellt und im Voraus auch bereits als solche verurteilt worden. Für den angeblichen Angriff gebe es jedoch keinerlei Beweise. Der Prozess wird am Mittwoch mit weiteren Plädoyers der Verteidiger fortgesetzt.
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