Pirmin Schwegler kennt sowohl den Schweizer als auch den deutschen Fussball. Mit Keystone-SDA spricht der 37-Jährige über die Euphorie im Gastgeberland und die deutsche Mentalität.
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- Pirmin Schwegler hat seine Karriere beim FC Luzern lanciert. Später spielte er 13 Jahre in der Bundesliga. Für die Schweiz hat er 14 Länderspiele bestritten.
- Seit 2023 ist Schwegler Leiter Profifussball bei Hoffenheim, zuvor war er Chefscout bei Bayern München.
- Schwegler kann sich «gut vorstellen, dass Deutschland im eigenen Land ein besonderes Turnier spielen wird». Auch der Schweiz traut er letztlich aber alles zu.
- Schwegler findet, dass Deutschland etwas mehr Qualität hat, aber: «Die beiden Teams liegen also nicht mehr so weit auseinander wie noch vor ein paar Jahren. Da hat die Schweiz mit sehr guter Arbeit wirklich stark aufgeholt.»
Pirmin Schwegler hat viel gesehen und erlebt in seiner Laufbahn. Angefangen hat alles beim FC Luzern, wo er ausgebildet wurde und zum Profi aufgestiegen ist, ehe er eine Saison für die Young Boys auflief. Danach war der Innerschweizer 13 Jahre in der Bundesliga aktiv, absolvierte dabei 262 Partien für Leverkusen, Frankfurt, Hoffenheim und Hannover. 14 Länderspiele stehen im Streckbrief des zentralen Mittelfeldspielers, der seine Karriere 2020 bei den Western Sydney Wanderers beendete, ehe er nach Deutschland zurückkehrte, wo er erst Chefscout bei Bayern München wurde und 2023 zur TSG Hoffenheim weiterzog. Bei den Kraichgauern bekleidet Schwegler den Posten des Leiters Profifussball.
Pirmin Schwegler, ist in Deutschland schon so etwas wie Euphorie spürbar vor der Heim-EM?
Die beiden Testspielsiege im März gegen Frankreich und die Niederlande haben sicherlich schon etwas ausgelöst, die Vorfreude auf die Heim-EM ist bei den Deutschen definitiv da. Mir persönlich kommt es allerdings noch gar nicht so vor, als stünden wir unmittelbar vor einem grossen Turnier. Die ganz grosse Euphorie dürfte erst mit dem ersten Spieltag so richtig entfacht werden, wenn die Fans vor Ort sind.
Nach den von Ihnen angesprochenen Siegen im März ging ein Ruck durch die Nation, viele sprechen heute offen vom Titel. Zuvor graute es vielen vor der Heim-EM. Ist dieser schnelle Umschwung typisch deutsch?
Ob das typisch deutsch ist, kann ich nicht beurteilen. Aber was sicherlich typisch ist für die Deutschen, ist ein gesundes Selbstvertrauen. In der Schweiz nennen es viele Arroganz, ich sehe das ganz anders, auch wenn ich mich erst an die Mentalität gewöhnen musste. Ein gesundes Selbstbewusstsein ist eine Qualität, an sich zu glauben eine Stärke. Gepaart mit Überzeugung kann so eine Euphorie und Wucht entstehen, die dich als Mannschaft nicht nur durch das Turnier trägt, sondern auch Talent und Qualität schlagen kann. Das hat die deutsche Nationalelf in der Vergangenheit schon oft bewiesen – nicht zuletzt sehr eindrucksvoll beim Sommermärchen 2006.
Der Nimbus als Turniermannschaft hat in den letzten Jahren aber stark gelitten.
Wenn man das Abschneiden in den vergangenen, grossen Turnieren anschaut, ist das so. Ich glaube aber, dass die Deutschen diese Überzeugung der eigenen Stärke von Natur aus in sich tragen und sich das Selbstvertrauen bei den Spielern wieder in die richtige Richtung entwickelt. Das ist eine Qualität, die beim Gegner gewisse Ängste auslösen und am Ende den Unterschied ausmachen kann. Ich kann mir vorstellen, dass Deutschland im eigenen Land ein besonderes Turnier spielen wird.
Wird die Schweiz in Deutschland nach wie vor als kleine Fussballnation wahrgenommen oder hat sich diesbezüglich etwas verändert in den letzten Jahren?
Die sehr gute Arbeit in der Schweiz hat auch hier in Deutschland Eindruck hinterlassen. Bei den vergangenen Turnieren kam die Nati ja jeweils weiter als die DFB-Elf. Doch nicht nur die Schweizer Nationalmannschaft hat Anerkennung gewonnen, auch die einzelnen Spieler imponieren, in der Bundesliga und den anderen europäischen Topligen. Beim italienischen Meister steht Yann Sommer im Tor, bei Manchester City hat sich Manuel Akanji durchgesetzt. Granit Xhaka ist in Leverkusen prägend und hat die Mannschaft zum Double geführt. Solche Sachen werden hier schon wahrgenommen. In Deutschland hat man meinem Empfinden nach grossen Respekt davor, was in der Schweiz geleistet wird.
Und trotzdem hat die Bundesliga eine Strahlkraft, an die die Schweizer Super League nie heranreichen wird.
Die Bundesliga punktet mit grossen, modernen Stadien, Traditionsvereinen, Emotionen und einer besonderen Atmosphäre, die fast schon süchtig macht. Das sind Dinge, die den Fussball ausmachen. Die Auslastung, die in den deutschen Stadien vorherrscht, ist in Europa und auf der ganzen Welt einzigartig. Selbst in der Zweiten Bundesliga kommen bei Vereinen wie Hamburg oder Schalke mehr als 50'000 Zuschauer im Schnitt. Das macht es für alle Protagonisten interessant.
Wenn Sie die Bundesliga und die Super League vergleichen: Ist der Unterschied zwischen diesen beiden Ligen in den letzten Jahren eher grösser oder kleiner geworden?
Es fällt mir schwer, das im Detail zu differenzieren, auch, weil ich die Bundesliga viel stärker verfolge als die Super League. Was man aber sicher sagen kann, ist, dass durch die internationalen Wettbewerbe die Schere innerhalb der Ligen weiter auseinandergegangen ist und auch weiterhin gehen wird. Vereine aus der Bundesliga, wie beispielsweise der FC Bayern oder auch Borussia Dortmund, die sich regelmässig für die Champions League qualifizieren, haben einfach ganz andere finanzielle Möglichkeiten. Da kann selbst eine Qualifikation für die Europa League nicht mithalten. Leverkusen hat jedoch in der abgelaufenen Saison gezeigt, dass dieser Rückstand mit sehr guter Arbeit, vielen guten Entscheiden und gutem Personal aufzuholen ist. Das war ein wichtiges Zeichen.
Zurück zur Nationalmannschaft. Wo ist Deutschland der Schweiz noch voraus?
Deutschland hat insgesamt gesehen sicherlich die etwas höhere Qualität und Dichte. Dennoch muss auch bei so einer starken Mannschaft alles zusammenkommen, um am Ende ganz oben zu stehen. Natürlich hat man in Deutschland den Anspruch, Turniere zu gewinnen. Aber auch in der Schweiz sind die Ambitionen gestiegen. Die beiden Teams liegen also nicht mehr so weit auseinander wie noch vor ein paar Jahren. Da hat die Schweiz mit sehr guter Arbeit wirklich stark aufgeholt.
Wer gewinnt am 23. Juni das direkte Duell?
Ich hoffe, dass beide Mannschaften bereits vor dem letzten Spieltag für die K.o.-Phase qualifiziert sind und somit keine Gefahr besteht, dass es zu einer Neuauflage der «Schande von Gijon» kommt, wie damals bei der WM 1982 zwischen Deutschland und Österreich (lacht). Aber im Ernst: In Frankfurt wird eine aussergewöhnliche Stimmung in der Stadt und im Stadion herrschen. Hoffen wir, dass sich das auch auf den Rasen überträgt. Die Tagesform dürfte am Ende den Ausschlag auf die eine oder andere Seite geben. Ich bin mir sicher, dass beide Mannschaften eine sehr, sehr gute Rolle in diesem Turnier spielen werden.
Wie weit geht es denn für die Schweiz und Deutschland?
Ich bin überzeugt davon, dass beide die Gruppenphase überstehen werden. Danach ist, wie man so schön sagt, alles möglich. Aufgrund der Leistungsdichte entscheiden bei einem solchen EM-Turnier am Ende immer Nuancen: Wer ist am Tag X in Hochform, wer hat keine Gesperrten, wer hat Losglück? Ich traue der Schweiz einen Effort wie bei der letzten EM zu, als Frankreich ausgeschaltet wurde. Dann stehst du auf einmal plötzlich im Halbfinal und wer weiss, vielleicht warten dann dort oder im Final wieder die Deutschen. Ich hätte definitiv nichts dagegen.
Wem würden Sie denn in einem allfälligen Final die Daumen drücken?
(Schmunzelt) Ich bin Schweizer und die Schweiz ist meine Heimat. Auch wenn ich mich mit beiden Nationen sehr verbunden fühle und zu beiden Mannschaften noch Verbindungen bestehen, schlägt dann doch das Schweizer Herz in meiner Brust ein wenig mehr als das deutsche.