Gast-KommentarDarum verdankt Deutschland den WM-Titel auch der Schweiz
Gastkommentar von Christoph Biedermann
16.6.2018
Deutschlands wichtigster Taktikexperte analysiert die Chancen der Nati (und erklärt, warum Deutschland seinen WM-Titel auch der Schweiz verdankt).
Zum Autor: Christoph Biermann ist Mitglied der Chefredaktion des Fussballmagazins «11 Freunde» und Autor preisgekrönter Fussballsachbücher.
Im Jahr 2000 kam es zu einer Begegnung, die die Geschicke des deutschen Fussballs für immer ändern sollte: Jogi Löw erklärte Jürgen Klinsmann die Viererkette auf eine Art und Weise, dass dieser sie endlich verstand. Als Klinsmann vier Jahre später Bundestrainer wurde, erinnerte er sich an die Lektion und machte Löw zu seinem Assistenten. 2006 wurde Löw DFB-Coach, der Rest ist Geschichte.
Zur Jahrtausendwende galten Kenntnisse über die Viererkette in Deutschland als echtes Insiderwissen. In der Bundesliga agierte man noch mit Libero und Manndeckung, Löw indes hatte unter Rolf Fringer beim FC Schaffhausen einen moderneren Fussball kennengelernt: Dort setzte man nicht auf heroische Einzelspieler, sondern auf Kollektive, Pressing und Zonendeckung.
Aber nicht nur taktisch war die Schweiz weiter als der grosse Nachbar. Die Reformer des deutschen Fussballs fuhren in die Schweiz, um zu lernen, wie zeitgemässe Talentförderung aussieht. Fast drei Jahrzehnte lang war die Schweiz international abgehängt gewesen, mit guter Nachwuchsarbeit hatte sie dann aber ab Mitte der 1990er-Jahre den internationalen Anschluss wieder geschafft.
«Bastian Schweinsteiger war als Jugendlicher zum Beispiel ein herausragender Skifahrer. In Deutschland war Fussball für ihn klar die attraktivere Option. Doch wie hätte er sich wohl in der Schweiz entschieden?»
Nun fragt man sich, warum es die Schweiz trotz ihrer systemischen Überlegenheit nicht geschafft hat, Länder wie Deutschland wenigstens temporär zu überholen. Diese Ungerechtigkeit hat meiner Meinung nach viel mit Demografie zu tun – und mit Zufall. Deutschland hat zehnmal so viele Einwohner wie die Schweiz und mehr als zehnmal so viele Fussballspieler. Mit solch einem riesigen Reservoir sichert man sich selbst bei grösster Schludrigkeit noch einen gewissen Vorsprung.
In kleineren Ländern wie zum Beispiel der Schweiz gibt es nicht nur rein statistisch gesehen weniger Ausnahmesportler – der Fussball muss sich auch mit anderen Disziplinen um Talente streiten. Bastian Schweinsteiger war als Jugendlicher zum Beispiel ein herausragender Skifahrer. In Deutschland war Fussball für ihn klar die attraktivere Option. Doch wie hätte er sich wohl in der Schweiz entschieden?
Länder mit weniger als zehn Millionen Einwohnern brauchen eine goldene Generation, um sich in Geschichtsbüchern zu verewigen. Die Dänen, die Griechen und die Portugiesen wurden so Europameister, die Kroaten, die Bulgaren und die Schweden schafften es auf diese Art ins WM-Halbfinale. Diese Mannschaften vereinten meist Weltklassespieler wie heute Cristiano Ronaldo oder früher Hristo Stoichkov und Davor Suker mit einer Gruppe gut geschulter Fussballarbeiter und einer taktischen Idee. So lautet die Formel.
Es ist eine der besonderen Erfolgsgeschichten des Weltfussballs, dass die Schweiz seit 2006 nur ein grosses Turnier verpasst hat und derzeit auf Platz sechs der FIFA-Weltrangliste steht. Dazu passt das Vorhaben von Nationaltrainer Vladimir Petkovic, seine Mannschaft in der Vorbereitung zur WM «taktisch weiterentwickeln» zu wollen. Gegen Brasilien wird die Nati wohl ein Aussenseiter sein, aber gegen Serbien und Costa Rica wird sie das Spiel selbst gestalten müssen. Erst wenn ihr das gelingt und sie sich auch im Achtelfinale beweist, können wir darüber nachdenken, ob wir es auch hier mit einer goldenen Generation zu tun haben.
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