Der Spanier Felix Sanchez kennt den katarischen Fussball in- und auswendig. Als Nationalcoach steht sein 16-jähriges persönliches Projekt ab Sonntag auf dem Prüfstand.
Die Anforderungen an den Nationaltrainer sind grundlegend anders, je nachdem für welches Land er im Einsatz steht. Englands Gareth Southgate benötigt ein dickes Fell um dem öffentlichen Druck standzuhalten, Brasiliens Tite ein gutes Händchen um aus den Besten die Allerbesten herauszupicken, und Kameruns Rigobert Song muss in der ganzen Welt von Seattle bis Schanghai nach seinen Spielern suchen.
Felix Sanchez hat alle und alles zur Hand, das Zusammenstellen seines Kaders ist keine Knacknuss. Alle Spieler kommen aus der heimischen Liga und die meisten vom Meister Al-Sadd. Der Katalane kennt sie schon seit vielen Jahren, und er hat entscheidend mitgeholfen, sie aufzubauen. Die Vorbereitung auf die Aufgaben der kommenden Tage, beginnend mit dem Eröffnungsspiel am Sonntag in Al-Khor gegen Ecuador läuft seit geraumer Zeit. Sanchez führt ein Langzeitprojekt, das für andere Nationaltrainer unvorstellbar ist.
Seit 2006 ist Sanchez, mit seinen 46 Jahren einer der jüngsten WM-Coaches, in Katar tätig. Vom FC Barcelona kam er in den Nahen Osten nach Ar-Rayyan, ein Vorort von Doha – vom berühmten Nachwuchszentrum La Masia zur Aspire Academy, diesem riesigen Sportkomplex mit mehr als 1000 Angestellten, einem guten Dutzend Fussballfeldern, Sporthallen, Krafträumen, Leichtathletik-Anlage, Squashplätzen, zwei Hotels und einem Internat. Bayern München und Paris Saint-Germain haben hier schon Trainingslager absolviert. Aber in erster Linie soll die Aspire Academy der Startpunkt zu einer grossen Sportlerkarriere sein, für alle Katari, aber ganz speziell für die Fussballer.
Kleiner Leistungsausweis
Vieles, was in den letzten Jahren entwickelt wurde, wird in den kommenden Tagen dem grossen Test unterzogen. Was grösstenteils im Stillen und unter Ausschluss der Öffentlichkeit entworfen wurde, muss in der wirklichen Welt standhalten. «Es funktioniert», sagt Sanchez über die Aspire Academy. «Der Beweis ist, dass es so viele Spieler von hier aus in die 1. Mannschaft geschafft haben.» Der Spanier hat die meisten von ihnen jahrelang begleitet. Er war Junioren-Trainer, bevor er 2017 die A-Nationalmannschaft übernahm.
Es ist ein ungewöhnlicher Weg ohne Zwischenstation bei einem Topklub, den Sanchez gegangen ist. Verglichen mit den meisten seiner Kollegen, die über Erfolge im Klubfussball einen Job bei einem WM-Teilnehmer ergattert haben, ist sein Leistungsausweis kleiner. Der Gewinn der Asienmeisterschaft 2019 im Final gegen Japan ist das Herausragende in seinem Palmarès. An diesem Erfolg orientiert sich Sanchez: «2019 war es schwierig sich vorzustellen, dass wir gewinnen, aber wir haben es getan. Ich spreche jetzt nicht davon Weltmeister zu werden, aber unser Ziel ist auf jeden Fall, auf höchstem Niveau mitzuhalten.»
Vorbereitung in Österreich und Spanien
Während sich andere Nationalteams mit einigen Tagen Turnier-Vorbereitung zufrieden geben mussten, konnte Sanchez diesbezüglich aus dem Vollen schöpfen. Dem Projekt Heim-WM wurde alles unterstellt. In den letzten Monaten tourte die Mannschaft durch Europa, machte Trainingslager in Salzburg oder Marbella. Zum Teil mussten mehrere Hotels gebucht werden, um die 150 mitgereisten Personen unterzubringen. Neben dem Betreuerstab und den Spielern umfasste die Reisegruppe auch deren Familien.
Wo nun Katar fussballerisch steht, lässt sich trotz der gemeinsamen Monate nicht sagen. Die meisten Testpartien fanden ohne Zuschauer statt und gegen unterklassige Gegner. In den offiziellen Länderspielen spielte Katar zuletzt 2:2 gegen Chile und 0:2 gegen Kanada. Ganz in der Manier eines Projektleiters bewegt sich Sanchez in der Kommunikation zwischen Optimismus und Zurückhaltung. Für den oft etwas finster dreinblickenden Glatzkopf steht viel auf dem Spiel: In den nächsten Tagen entscheidet sich in einigen wenigen 90 Minuten, ob sein 2006 begonnenes Projekt ein Erfolg war oder nicht.