Pierluigi Tami, der Direktor der Nationalmannschaft sagt, warum er der SFV-Auswahl an der WM in Katar alles zutraut und warum er sich keine Sorgen um fehlende Aussenverteidiger macht.
Als ehemaliger Assistent von Köbi Kuhn und langjähriger Coach der Jugend-Auswahlen sowie Trainer in der Super League gehört Pierluigi Tami zu den profundesten Kennern des Schweizer Fussballs. Seit 2019 begleitet der 61-jährige Tessiner das Nationalteam in der Funktion des Direktors auf Schritt und Tritt. Nun wähnt er die Mannschaft reif für Historisches.
Am Rande der WM-Vorbereitung in Doha streicht Tami insbesondere die grosse Erfahrung der Schweizer WM-Mannschaft 2022 und den speziellen Teamgeist heraus. Dieser manifestiert sich in Dingen, die in der heutigen Zeit nicht mehr selbstverständlich sind: «Man glaubt es kaum, aber die Spieler sprechen und lachen miteinander und spielen Gesellschaftsspiele.»
Dass im 26-köpfigen Schweizer Kader keine Backups für Ricardo Rodriguez und Silvan Widmer stehen, beunruhigt Tami nicht. Weil er auf Murat Yakins taktisches Geschick und den unbekannten Plan B vertraut, den der Nationaltrainer in der Hinterhand hält.
Pierluigi Tami, was ist Ihr persönliches Ziel an der Weltmeisterschaft in Katar?
Dass wir das beste Schweizer Resultat der Geschichte schaffen.
Sie wollen den Viertelfinal von 1954 toppen?
1954 war eine andere Epoche. Die Viertelfinals wären auch schon ein grosses Resultat. Aber ich will kein Limit setzen. 2006 mit Köbi Kuhn wurde immer vom Achtelfinal gesprochen. Ständig hiess es: Achtelfinal, Achtelfinal, Achtelfinal. Als man den Achtelfinal erreichte, war die Spannung weg. Ich sage immer: Wenn du 100 km weit laufen willst, dann hast du diese Distanz immer vor Augen. Wenn es dann nach 100 km plötzlich heisst, du sollst mehr machen, schaffst du es nicht. Wenn du aber von Anfang an 150 km im Kopf hast, schaffst du diese.
Was bestärkt Sie im Glauben, dass in Katar mehr drin liegt als bei den anderen Schweizer WM-Teilnahmen der Neuzeit?
Ich habe der Mannschaft und dem Staff neulich gesagt, dass das die fünfte Qualifikation der Schweiz in Folge für eine Weltmeisterschaft ist. Diese Qualifikation ist also schon mal etwas ziemlich Gutes. Ich kenne die aktuellen Spieler und weiss, dass sie sich damit nicht zufriedengeben. Sie wollen mehr und sind dazu imstande.
Ein Aus in der Gruppenphase ist auch schnell passiert.
Es kann sein, dass die WM nach drei Spielen vorbei ist, denn die Gruppengegner sind sehr stark. Die Spieler sollten dann aber nichts bereuen müssen, im Wissen, dass sie alles dafür getan haben, um etwas Grosses zu schaffen. Sie sollen auch in diesem Fall sagen können, dass die Anderen besser waren. Bei den letzten Endrunden-Teilnahmen hatte man nach jedem Aus das Gefühl, dass die Spieler etwas zu bereuen hatten. Ich erinnere mich gut an 2006 und die Achtelfinal-Niederlage gegen die Ukraine. Man hatte den Eindruck, dass die Spieler gar nicht im Match waren. Das 2:0 gegen Südkorea im letzten Gruppenspiel wurde zu stark gefeiert.
Die Voraussetzungen dieses Mal scheinen besser. Die Mannschaft 2006 war auch gut und selbstbewusst, aber die heutigen Nationalspieler haben ein anderes Selbstverständnis und Selbstbewusstsein.
Wir haben vor allem ein sehr erfahrenes Team mit Spielern, die ihre dritte oder sogar vierte Weltmeisterschaft bestreiten. Einige haben mehr als 100 Länderspiele absolviert, andere 40, 50 oder 60. Es gibt grosse Persönlichkeiten und viel Qualität in der Mannschaft. Die Grundlagen für etwas Grosses sind da, jetzt geht es um die Performance – um die Entschlossenheit, diese Chance wahrzunehmen. Dabei ist auch die Stimmung in der Gruppe entscheidend. Die Spieler müssen Freude und Spass haben, um erfolgreich zu sein – insbesondere wenn du lange am gleichen Ort bist wie hier mit den kurzen Distanzen.
Glauben Sie, dass das die beste Schweizer Nationalmannschaft überhaupt ist?
Nein. Frühere WM-Mannschaften waren auch gut. Ich glaube aber, es ist diejenige mit der grössten Erfahrung auf hohem Niveau. Diese Gruppe gefällt mir. Sie ist schön, stark und hat einen guten Mix. Es gehören auch interessante junge Spieler zur Mannschaft, die davon profitieren, in einen Kreis zu stossen, der schon sehr lange zusammen ist. Ausserdem gefällt mir, dass die Mannschaft eine klare Vorstellung hat, wie sie spielen will.
Der Teamgeist in der jetzigen Mannschaft soll aussergewöhnlich gut sein. Wie nehmen Sie das wahr?
Man spürt, dass die Spieler gerne zur Nationalmannschaft kommen und sie das Zusammensein geniessen. Besonders freut mich zu sehen, dass sie in der Freizeit nicht immer am Handy hängen. Man glaubt es kaum, aber sie sprechen und lachen miteinander und spielen Gesellschaftsspiele. Das habe ich viele Jahre lang nicht mehr gesehen.
Wer hat diesen Spirit ins Team transportiert?
Vielleicht liegt es daran, dass viele Spieler auf die 30 zugehen. Die älteren Spieler, die 91er- und 92er-Jahrgänge um Shaqiri, Xhaka und Rodriguez, tragen wohl viel dazu bei. Sie sorgen auch dafür, dass es für die Jungen, die in diese Mannschaft kommen, sehr einfach ist, sich gut zu integrieren.
Murat Yakin hat keine Ersatzspieler für Aussenverteidiger Ricardo Rodriguez und Silvan Widmer aufgeboten. Wie sehr sind Sie in die Pläne des Trainers einbezogen?
Klar, es stellt sich die Frage, was Yakin macht, wenn einer der beiden ausfällt. Vielleicht hat er vor, mit einer Dreierkette zu spielen, schliesslich verfügen wir über vier Innenverteidiger in starker Form. Andererseits haben wir vielseitige Spieler wie Edimilson Fernandes, die als Joker fungieren können. Was genau Yakins taktische Idee im Fall eines Ausfalls ist, werden wir sehen. Dass er imstande ist, kreative oder flexible Lösungen zu finden, hat er schon oft gezeigt. Das ist Murat.