Vor 66 Jahren Die Hitzeschlacht von Lausanne: 12 Tore bei 40 Grad

SDA

26.6.2020 - 04:05

Heute vor 66 Jahren hätte die Schweiz an der Heim-WM gegen Österreich in den Halbfinal einziehen können. Doch das Nationalteam vergab ein 3:0 und schied mit einem 5:7 aus.

Welches ist das denkwürdigste WM-Spiel der Schweizer Nationalmannschafts-Historie? Die Barrage gegen die Türkei vor 15 Jahren? Das 1:0 gegen Weltmeister Spanien an der WM 2010 in Südafrika? Das 4:1 gegen Rumänien 1994 in den USA oder das 2:1 gegen Serbien an der letzten Endrunde in Russland? Erfahrenere Semester nennen den WM-Viertelfinal 1954, und das aus gutem Grund. Die folgenden Zeilen handeln von neun Toren in einer halben Stunde, einem Goalie mit Sonnenstich und einem torkelnden Verteidiger, vom bis heute torreichsten WM-Spiel und dem Schweizer Aus gegen Österreich durch ein 5:7.

Es ist der 26. Juni 1954, der WM-Viertelfinaltag für die Schweiz. Mit wenig Kredit und einem dicken Fragezeichen hinter der Abwehr ins Heimturnier gestartet, hat die Schweiz in der Gruppe mit England, Italien und Belgien dank zwei Siegen über Italien – einer davon im Entscheidungsspiel – den 2. Platz und damit die Viertelfinals erreicht. Die anfängliche Skepsis ist einem gesunden Selbstvertrauen gewichen.

Das erste Duell mit Italien hat Nationaltrainer Karl Rappan gezeigt, dass sich die Schweiz nicht hinter einer Defensivtaktik verstecken muss. André Neury überzeugt als umsichtiger Abwehrchef, der Sturm um Regisseur Roger Vonlanthen, «Goldfüsschen» Seppe Hügi, Robert Ballaman und Jacky Fatton genügt höchsten Ansprüchen. Das Kollektiv harmoniert im Vorwärtsgang mit gutem Zusammenspiel und viel Zug aufs gegnerische Tor. Eugène Parlier, der Goalie mit der Postur eines Ringers und den Pranken eines Bären, gehört zu den Sympathieträgern des Teams und hält in den Gruppenspielen, was es zu halten gibt.

Ferngesteuerter Austria-Goalie

Nun heisst der Gegner im Viertelfinal Österreich – und nicht einer der Turnierfavoriten Brasilien, Ungarn oder Uruguay. Österreich gilt als überwindbare Hürde. Es ist die Chance auf den Halbfinal-Einzug. Ort des Geschehens ist das frisch renovierte Stade Olympique auf der Lausanner Pontaise. 37'000 Zuschauer füllen die Ränge. Es ist heiss, sehr heiss. Die Temperatur kratzt an der 40-Grad-Marke, die Luft ist feucht.

Den Schweizern scheint die Hitze wenig anzuhaben, ganz im Gegensatz zu Österreichs Schlussmann Kurt Schmied, der einen Sonnenstich erleidet und nicht ausgewechselt werden kann; das Reglement lässt es nicht zu. Innert drei Minuten schiessen Hügi und Ballaman die Schweiz bis zur 19. Minute vermeintlich vorentscheidend mit 3:0 in Führung. Für die Österreicher scheint die Situation ausweglos. Damit Schmied halbwegs mitbekommt, was sich vor ihm tut, platziert Teamchef Walter Nausch den Masseur hinter dem Tor. Mit seinen Kommandos steuert dieser Schmied quasi fern. Bei Unterbrüchen kühlt er den Goalie mit nassen Schwämmen.

Orientierungsloser Bocquet

Doch auch «Gégène» Parlier ist bei diesen Bedingungen nicht auf der Höhe des Geschehens, bei Weitschüssen offenbart er grosse Unsicherheiten. Noch orientierungsloser irrt Captain Roger Bocquet über den Platz. Der Verteidiger hat einen Ellbogenschlag kassiert und leidet an einem Sonnenstich. Wie sich später herausstellt, hat er einen Hirntumor (den er überlebt). Bis zur 27. Minute erzielen auch die Österreicher drei Tore in drei Minuten und in den folgenden fünf Minuten zwei weitere. Ballamans 4:5 in der 39. Minute bedeutet nur darum das Halbzeitresultat, weil Österreichs Angreifer Alfred Körner in der 42. Minute einen von Bocquet verschuldeten Penalty verschiesst. Neun Tore in einer Halbzeit, auch das ist eine WM-Rekordmarke.

Nach dem Seitenwechsel erhöhen die Gäste auf 6:4. Kurz darauf verkürzt Hügi noch einmal, das 7:5 durch Erich Probst in Minute 77 bringt dann aber die Entscheidung. Statt die Schweiz ist Österreich der Überraschungs-Halbfinalist. In den Halbfinals gehen die platten Österreicher gegen den späteren Weltmeister Deutschland mit einem 1:6 unter. Sie gewinnen aber das Spiel um Platz 3 gegen Uruguay (3:1) und feiern einen Erfolg, der auch für die Schweiz in Reichweite gelegen wäre.

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