Sportstars mit Handicap 399 Premier-League-Spiele mit Tourette-Syndrom

Von Jan Arnet

19.5.2020

Tim Howard absolvierte für Everton und Manchester United 399 Premier-League-Spiele.
Tim Howard absolvierte für Everton und Manchester United 399 Premier-League-Spiele.
Bild: Getty

In einer mehrteiligen Serie erzählt «Bluewin» die Geschichten von Sportlern, die es trotz eines Handicaps weit gebracht haben. Teil 1: Tim Howard.

Tim Howard hat auch mit 41 Jahren noch nicht genug. Im März dieses Jahres unterschrieb der langjährige US-Nati-Goalie einen Vertrag beim amerikanischen Zweitligisten Memphis 901. Da dürfte er die letzten seiner inzwischen über 600 Profi-Fussball-Spiele absolvieren. 

Dass Howard überhaupt Profi wurde, grenzt an ein Wunder. Denn seit seinem zehnten Lebensjahr leidet der Keeper unter dem Tourette-Syndrom – einer Erkrankung des Nervensystems, bei der es zu wiederholten Bewegungen oder ungewollten Lautäusserungen kommt.

«Beim Training und im Spiel kommt es vor, dass entweder ein Arm, der Hals oder ein Auge heftig zuckt. Meist ganz plötzlich. Manchmal ziehen sich auch einige Muskeln zusammen», sagte Howard vor sieben Jahren dem «Spiegel». Damals war er noch Stammtorhüter beim Premier-League-Klub Everton, für den er wettbewerbsübergreifend mehr als 400 Spiele bestritt, und der US-amerikanischen Nationalmannschaft, für die er 121 Länderspiele absolvierte. 

Hastige Zuckungen mitten im Spiel 

Seit Jahren steht Howard in der Öffentlichkeit, dennoch wissen wohl nur die wenigsten Fans, dass der Keeper an einer Verhaltens- und Emotionsstörung leidet. Doch der 41-Jährige spürt die Symptome seiner Krankheit auch unmittelbar vor und während eines Spiels. «Mein Körper ist angespannter als sonst, meine Muskeln kontrahieren öfter, und ich mache häufiger eine hastige Bewegung», erzählte er. «Solange das Geschehen nicht direkt vor meiner Nase abläuft, lasse ich den Arm zucken.»

Kurioserweise kann er sich und seinen Körper ausgerechnet dann vollständig kontrollieren, wenn es brenzlig wird. «Kommt der Ball in meine Nähe, bin ich voll da. Es ist kurios: Sobald es vor dem Tor ernst wird, habe ich keine Zuckungen, dann gehorchen meine Muskeln.» Auch die Ärzte konnten ihm dieses Phänomen nie erklären. In seiner Zeit bei Everton (2007 bis 2016) haben ihn sogar Professoren auf dem Trainingsgelände besucht, die mit dem Goalie sprechen und die Krankheit weiter erforschen wollten.

Howards «Glück» ist, dass er anders als viele andere Menschen, die am Tourette-Syndrom leiden, keine unkontrollierten Flüche und Schimpfwörter ausspricht. Ab und zu muss er heftig und laut husten, das sei sein einziger «vokaler Tic». Festgestellt wurde die neurologisch-psychiatrische Störung, als Howard zehn Jahre alt war. «Ich habe Taschen voller Steine mit nach Hause gebracht. Oft habe ich auch mein Spielzeug in einer bestimmten Reihenfolge geordnet oder die Linien auf einem Blatt Papier gezählt.»

Schmähungen der englischen Presse getrotzt

Das Leben mit Tourette-Syndrom ist dem zweifachen US-Fussballer des Jahres (2008, 2014) nicht unangenehm. Im Gegenteil. Einmal sagte er: «Wenn ich morgen ohne die Krankheit aufwachen würde, wüsste ich nicht, was ich mit mir anfangen sollte.» Bei «In Depth with Graham Bensinger» erklärte Howard später diese Aussage wie folgt: «Das gehört einfach zu mir. Ich mag, was ich bin und wer ich bin. Die Krankheit gehört zu meiner Persönlichkeit.»

Vielleicht auch deshalb konnte der US-Amerikaner die Schmähungen englischer Medien, die Howard vor seinem Wechsel zu Manchester United im Sommer 2003 als «Behinderten» und «fluchenden Keeper» bezeichnet hatten, gut wegstecken. «Ich brauche heute keinen seelischen Beistand und kein Mitleid, und das benötigte ich auch damals nicht», sagte er dem «Spiegel». Er sehe sich selbst als positives Beispiel dafür, dass das Tourette-Syndrom kein Leiden sein muss. «Es ist nur ein Zustand, der es trotzdem jedem erlaubt, sich seinen Traum zu erfüllen.»

Zurück zur StartseiteZurück zum Sport