Kein Schweizer Fussballer hat im Ausland mehr Trophäen gewonnen: Stephan Lichtsteiner will nach einer beispiellosen Erfolgsstory mit Juventus Turin bei Arsenal um weitere Trophäen kämpfen.
In der Premier League hat sich Stephan Lichtsteiner Rolle verändert. Auf dem Feld gehört der 104-fache Nationalspieler nicht zu den Titularen, eine auffällige Figur ist der polyvalente Verteidiger gleichwohl. Der 34-jährige Schwerarbeiter mit einem Vertrag bis nächsten Sommer lebt den Jungstars der Gunners im Trainingsalltag und in der Europa League Leadership vor.
Offen ist sein weiterer Weg in der SFV-Auswahl. Der langjährige Captain wurde seit dem WM-Out im Sommer einzig für den Test gegen England (0:1) nominiert. Er sei noch nicht über dem Zenit und werde für sein Comeback in der Nationalmannschaft bis «zur Schmerzgrenze gehen», meldet Lichtsteiner im Gespräch mit der Nachrichtenagentur Keystone-SDA aus London.
Wie gross ist ihre persönliche Challenge in London?
Es war der Schritt, den ich machen wollte. Ich kam von einem Verein, in welchem wir in den letzten Jahren ein unglaubliches Winnerteam aufgebaut haben. Ein Klub der dafür geschaffen ist, jedes Jahr Erfolge zu feiern. Hier sehe ich viel Talent, eine perfekte Infrastruktur, ein hervorragend geführter Klub.
Juventus gewann mit Ihnen sieben Meisterschaften in Serie, erreichte zweimal den Champions-League-Final. Arsenal stand in England vor über 14 Jahren zum letzten Mal zuoberst auf dem Podium.
Die Grundlagen sind top. Es lief zuletzt nicht immer so, wie es laufen müsste für einen Verein dieser Grössenordnung. Auf mich und alle anderen kommt die extreme Herausforderung zu, künftig wieder in der Champions League vertreten sein zu müssen. Wir sind auf einem guten Weg, der Coach macht einen sehr guten Job. Arsenal ist derzeit an allen Fronten auf Kurs – auch in der Europa League und im Cup.
In England wird ja eigentlich Woche für Woche eine Mini-Champions-League ausgetragen.
Die Dichte im oberen Bereich ist enorm. Und selbst die kleineren Vereine haben extrem hohe Budgets zur Verfügung. Das am Ende klassierte Fulham beispielsweise hat für 140 Millionen Euro eingekauft. In Italien können sich nur die Top 3 solche Ausgaben leisten, in Deutschland fällt mir nur ein Klub ein, in Frankreich ebenfalls, in Spanien vielleicht drei. Die englische Liga ist dank ihrer Finanzkraft auch in der Breite unfassbar kompetitiv.
Wie viel von Ihrem Temperament, Ehrgeiz und Feuer fliesst in Arsenals Bemühungen um eine Top-4-Klassierung mit ein?
Bevor wir uns auf eine Zusammenarbeit geeinigt haben, waren meine Eigenschaften natürlich ein Thema – meine Erfahrung, meine Mentalität, mein Charakter, meine Qualität. Spielerisch hat die Mannschaft sehr viel drauf, aber es ist auch wichtig, dass man in jedem Training 100 Prozent Gas gibt, dass es Spieler gibt, die mit einer Rolle zufrieden sind, die sie vor ein paar Jahren so vielleicht nicht akzeptiert hätten.
Sie zum Beispiel? Sie müssen um jede Minute Einsatzzeit ringen – eine neue Erfahrung nach den Jubeljahren in Turin.
Für mich hat sich die Situation verändert, klar. Aber mit knapp 35 auf diesem Toplevel zu spielen, das ist unglaublich, und ich geniesse jeden einzelnen Tag. In der Europa League spiele ich regelmässig, und auch in der Premiere League häuft sich meine Einsatzzeit an. Die Leute hier sehen, dass da einer gekommen ist, der enorm viel gewonnen hat, sich einfügt, sich nicht beschwert, der im Training vorangeht, um seinen Platz kämpft – egal wie, egal wo.
Héctor Bellerin ist auf Ihrer angestammten Position derzeit gesetzt.
Ab und zu muss man Geduld zeigen. Ich messe mich mit einem elf Jahre jüngeren, hervorragenden Spieler, den der Klub aufgebaut hat. Es geht auch darum, ihn selber zu verbessern, das ganze Team aufzuwerten. Vielleicht fehlte diese Komponente zuletzt ein bisschen. Die Ansage muss sein: Wir schätzen uns alle, aber jeder Einzelne will unbedingt von Beginn weg auflaufen. Es muss die Mentalität Einzug halten, jede Partie in jedem verdammten Wettbewerb gewinnen zu wollen – im Liga-Cup, im FA-Cup, in der Europa League, einfach überall. So muss jeder ticken, sonst wird es schwierig in einem Topklub.
In Turin waren Sie eine Grösse, warum haben Sie die italienische Komfortzone als 34-Jähriger verlassen?
Es geht doch immer auch darum, was man im Leben sucht. Natürlich wäre es bequemer gewesen, mit Juve den achten Scudetto in Serie anzupeilen. Für mich stellte sich auch die Frage: ‘Wie fühle ich mich? Wie ein 34-Jähriger oder jünger?’ In meinem Alter muss man immer noch eine Schippe mehr auflegen, man spürt teilweise weniger Kredibilität. Aber genau das ist die Herausforderung.
Sie kamen in London bisher auf vier verschiedenen Positionen zum Zug. Wie gehen Sie mit dieser taktischen Challenge um?
Derzeit haben wir einige Verletzte und stellen teilweise taktisch um, da ist von allen Flexibilität gefragt. Und ich glaube, es ist eine weitere Qualität, variabel einsetzbar zu sein. Ich muss auch nicht nach Alibis suchen, wenn mir eine Position nicht so vertraut ist. Genau das hat eben auch mit Mentalität und Einstellung zu tun.
Wie funktioniert Ihr Coach Unai Emery?
Gut, sehr gut. Er verlangt viel vom Team. Ein intelligenter Trainer, der während des Spiels die Taktik umstellen kann, der nicht abwartet. Emery ist ein Gewinner. Er tut alles dafür, dass wir besser werden, und er macht die Spieler auch wirklich besser. Ein hervorragender Trainer.
Bei einem anderen Trainer ist nicht ganz klar, was er mit Ihnen vorhat: bei Vladimir Petkovic. Wie ist der Stand?
Der Coach hat sich einen grösseren Konkurrenzkampf gewünscht. In der Nations League bot er konsequent neue Spieler auf, das ist sein gutes Recht. Das ist auch ein Part meiner Herausforderung, die ich wollte. Mir könnte helfen, dass ich in London verschiedene Rollen spiele.
Trotzdem: Sie waren jahrelang Captain und wurden in den letzten vier Spielen nicht mehr berücksichtigt.
Das ist kein Drama. Im Fussball geht es um Leistung und Erfolge. Die Schweiz bewegt sich auf einem hohen Level, Stammplätze gibt es nicht gratis.
Rechnen Sie mit einem zeitnahen Comeback in der Nationalmannschaft?
Solange ich bei Arsenal auf Toplevel regelmässig zum Einsatz komme, glaube ich nicht, dass es einen Weg um mich herum gibt. Aber ich verstehe den Coach, wenn er die Plattform Nations League nützt, um seine Optionen auszuweiten. Er muss langfristig denken und planen. Die Zeit für Tests ist in der Nationalmannschaft knapp bemessen.
Was spricht am meisten für Sie?
Für mich zählte immer die Leistung. Und wenn ich im Klub dabei bin, zweifle ich nicht daran, weiterhin zum Kreis der Nationalmannschaft zu gehören. Ich bin bereit, an die Schmerzgrenze zu gehen, und ich stehe nach wie vor zur Verfügung. Am Ende entscheidet Vladimir Petkovic, so ist es nun mal im Fussball. Für mich wird es vor allem darum gehen allen zu beweisen, dass ich mit bald 35 den Zenit noch nicht überschritten habe.
Das nun bereits längere SFV-Timeout macht Ihnen nicht zu schaffen?
Kein Problem, ich kämpfe. Ich fühle mich körperlich sehr gut. Solange ich Lust habe, mache ich im Nationalteam weiter. Aber irgendwann wird der Moment kommen, in dem ich sage: Für mich ist es okay so, ich geniesse die freien Tage lieber im Kreis meiner Familie.
Das Interview mit Stephan Lichtsteiner führte die Nachrichtenagentur Keystone-SDA