Kommentar «Blinde» Experten – Wozu sind die eigentlich gut?

Patrick Lämmle

25.3.2019

Experte Jürgen Klinsmann ist nach dem Auftritt der Deutschen Nationalmannschaft begeistert.
Experte Jürgen Klinsmann ist nach dem Auftritt der Deutschen Nationalmannschaft begeistert.
Bild: Screenshot «RTL»

Deutschland bezwingt Holland am Sonntagabend dank eines Treffers in der 90. Minute 3:2. Nach dem Spiel wird die Mannschaft im «RTL»-Studio über den grünen Klee gelobt. Die diversen Baustellen werden einfach ignoriert.

Jogi Löws Mannschaft startet furios in die EM-Quali, lässt den Ball in den ersten Minuten hervorragend laufen und kommt schon nach 1:38 Minuten zu einer ersten richtig guten Torchance. In der 15. Minute schliesst Leroy Sané einen mustergültigen Konter eiskalt ab. Super gemacht, keine Frage. Doch Sané profitiert auch davon, dass sein Bewacher, Matthijs de Ligt, ohne Fremdeinwirkung aus dem Tritt kommt und stürzt.

Ein Weckruf für die Holländer, die nun auch am Spiel teilnehmen. In der 25. Minute vergibt Ryan Babel eine Grosschance, er scheitert aus bester Abschlussposition am überragend reagierenden Manuel Neuer (Video unten).

Zwei Minuten später scheitert Babel erneut am reflexstarken Neuer. Wenn der Fulham-Profi eine dieser beiden Chancen nutzt, dann würde man nach dem Spiel über das stümperhafte Defensivverhalten der Deutschen diskutieren.

Ryan Babel scheitert am zuletzt in die Kritik geratenen Manuel Neuer.
Ryan Babel scheitert am zuletzt in die Kritik geratenen Manuel Neuer.
Bild: Twitter

In der 34. ist dann wieder einmal Deutschland dran. Serge Gnabry umkurvt Star-Verteidiger Virgil van Dijk und zimmert den Ball unhaltbar in die Maschen. Eine überragende Einzelleistung des 23-Jährigen, ein Traumtor.

Holland im zweiten Umgang drückend überlegen

In der zweiten Halbzeit spielt nur noch eine Mannschaft. Die Elftal kommt wie verwandelt aus der Kabine. De Ligt, der beim ersten Gegentreffer eine unglückliche Falle macht, erzielt in der 48. Minute den Anschlusstreffer. Das Abwehrverhalten der Deutschen lässt zu wünschen übrig.

In der 63. Minute bringen die Deutschen den Ball nicht aus der Gefahrenzone, Memphis Depay kommt etwas glücklich an den Ball und trifft zum zu diesem Zeitpunkt hochverdienten 2:2.

Die Holländer drücken weiter und suchen den K.o.-Schlag, in der 87. Minute klärt Süle in extremis vor dem einschussbereiten Depay.

Niklas Süle kann den dritten Gegentreffer verhindern.
Niklas Süle kann den dritten Gegentreffer verhindern.
Bild: Twitter

Unmittelbar danach wird Marco Reus eingewechselt. Und tatsächlich wird der Dortmund-Captain noch den Siegtreffer vorbereiten, nachdem er von Ilkay Gündogan (er kam in der 70. Minute für Goretzka) in die Tiefe geschickt wird. Ein super Tor. Allerdings begünstigt von Hollands Daley Blind, der im Zentrum das Abseits mit einem Stellungsfehler aufhebt. Deutschland gewinnt 3:2.

Deutschland überzeugt nur in der 1. Halbzeit

Als neutraler Beobachter kann man es kaum fassen. Da spielt Holland die Deutschen in der 2. Halbzeit – auch dank der von Bondscoach Roland Koeman vorgenommenen taktischen Umstellung – über weite Strecken an die Wand, holt einen 0:2-Rückstand auf und verliert dann doch noch. Was werden wohl die Experten sagen?

Haben die Experten dasselbe Spiel gesehen?

Jürgen Klinsmann, der deutsche «Sommer-Märchen»-Coach von 2006, steht bei «RTL» als Experte im Einsatz. Wie wird er diese Berg- und Talfahrt analysieren? «Das war fantastisch», sagt er. Die Mannschaft habe gefightet, alles reingeworfen und er spricht vom «Glück des Tüchtigen». «Was die Deutschen in der ersten Halbzeit gespielt haben, das war Weltklasse. Ich habe selten so eine Halbzeit gesehen.» Echt jetzt? Und was, wenn Babel eine seiner beiden Topchancen nutzt und den Ausgleich erzielt? Ja, dann würde man über die Ausbotung der beiden Innenverteidiger Boateng und Hummels diskutieren. Mit all ihrer Erfahrung hätten sie das vielleicht besser verteidigt.

Klinsmann sagt auch: «Du brauchst Ideen, die kamen mit Marco Reus.» Und Steffen Freund, der als Co-Kommentator im Einsatz ist, spricht von den «richtig klugen Einwechslungen von Joachim Löw». Gündogan und Reus waren entscheidend am Siegtreffer beteiligt. Reus, der schon im Testspiel gegen Serbien nach seiner Einwechslung stark aufspielte, hätten viele schon viel früher ins Spiel geschickt, nicht erst in der 88. Minute. Eigentlich kommt er viel zu spät, um dem Spiel noch den Stempel aufzudrücken – er tut es trotzdem. Hätte Deutschland nicht gewonnen, Löw wäre garantiert dafür kritisiert worden, dass er den Dortmunder nicht früher ins Spiel geschickt hat.

Immer wieder ist zu beobachten, dass in den Medien und bei den Experten ein einziger Treffer die ganze Analyse auf den Kopf stellen kann. Ein Sieg bedeutet oft, dass alles gut war. Im Falle eine Niederlage wird alles hinterfragt und bis ins letzte Detail zerpflückt. Das wirft die Frage auf: Wer braucht eigentlich Experten?

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