Ein deutscher Philosoph, der erwiesenermassen sehr viel von Fussball versteht, glaubt, dass der Sport auch nach Corona ohne Fans in den Stadien auskommen kann. Eine gewagte These. Was denken Sie?
Philosophie und Fussball: Da denkt manch einer an Spielsysteme, Einstellung oder Taktik. Im Fall von Wolfram Eilenberger sind die Gedanken aber tiefgreifender und der Kontext grösser.
Eilenberger ist in Deutschland eine bekannte Stimme, wenn es darum geht, das Phänomen Fussball zu ergründen – und zu erklären. Der in Freiburg geborene Publizist ist nicht nur promovierter Philosoph, sondern er verfügt auch über die Trainerlizenz des DFB, was ihn durchaus legitimiert, seine Haltung zu äussern.
Geneigte Leser und Zuschauer werden ihn auch aus TV-Talks wie «Doppelpass» oder «Sky90» kennen. Zwischen 2015 und 2019 publizierte er zudem regelmässige Fussball-Kolumnen bei der «Zeit». In der Serie «Eilenbergers Kabinenpredigt» sind zahlreiche Analysen zu lesen, in denen er nicht nur interessante Ansätze offenbart, sondern bisweilen auch gewagte Thesen aufstellt.
«Der BVB ist eine Sekte»
So sorgte er 2015 für Aufsehen, als er die Gestaltungskraft des damaligen Dortmund-Trainers Jürgen Klopp als «verbraucht» bezeichnete. Der BVB sei kein Verein mehr, sondern eine Sekte, schrieb Eilenberger. «Und zwar mit allen klassischen Attributen: Artikulationsverbote, totale Gemeinschaftssuggestion, unbedingter Erlöserglaube.»
Dass der Philosoph bekennender Fan des FC Bayern ist, tat im Hinblick auf die mediale Ausschlachtung der Thematik sein Übriges. Ganz Unrecht hatte er damals aber nicht, denn der «ausgepowerte» Klopp verliess den BVB am Ende der Saison. Was seither geschah, ist bekannt: Klopp führte Liverpool zum Champions-League-Sieg 2019 und 2020 zur ersten Meisterschaft seit 30 Jahren in der Premier League. Aber das ist eine andere Geschichte.
Auch mit «seinen» Bayern ging Eilenberger schon hart ins Gericht und kritisierte insbesondere das Wirken des früheren Sportdirektors Matthias Sammer. Dieser zerstöre «emotionale Nähe, die einen Fan zum Fan macht», und meinte: «Noch drei weitere Jahre mit Pep auf der Bank und Sammer am Mikro und dieser Verein ist emotional am Ende.» Bekanntlich sind beide Exponenten nicht mehr für den FC Bayern München tätig.
«80 bis 90 Prozent sind keine Stadionfans»
An pointierten und kontroversen Aussagen lässt es Eilenberger also nicht vermissen. So auch in seinem aktuellsten Gespräch, wo der 48-Jährige bei «MDR Kultur» sagt, dass sich der klassische Fan im Stadion mehr für das Gemeinschaftsgefühl als für das Spiel im ästhetischen Sinne interessiere und folglich der Fussball der Zukunft auch ohne Fans im Stadion auskommen könnte.
Angesichts des Champions-League-Finals am Sonntag ohne Zuschauer bemerkt er: «80 bis 90 Prozent der Fussballfans sind keine Stadionfans, sondern Fernsehfans. Bei ihnen sind die Einbussen vermutlich nicht so hoch. Es ist auch absehbar, dass man den Soundteppich und die Geräuschkulisse künftig digital simulieren kann. Als Fernseherlebnis kann sich der Fussball – und das mag eine traurige Erkenntnis sein – wohl vom Stadionfan emanzipieren.»
Ausserdem vermutet Eilenberger, entstehe beim Fussball eine neue digitale Fankultur. Schon länger sei zu beobachten, wie wichtig Twitter und andere soziale Medien während eines Spiels seien. Diese werden nun durch die pandemiebedingten Geisterspiele befeuert.
Aktuell lässt sich das am besten in der nordamerikanischen Basketball-Liga NBA verfolgen, wo sich die Fans via Computer oder Smartphone auf die Leinwände am Rande des Spielfelds projizieren lassen können. Der Anblick ist gewöhnungsbedürftig, aber nach einigen Spielen stellt sich der Eindruck ein, dass sich wenig bis gar nichts von einem Spiel der Vor-Coronazeit unterscheidet.