Heute vor 14 Jahren schafft Deutschland dank eines 4:2-Siegs im Penaltyschiessen gegen Argentinien bei der Heim-WM den Halbfinaleinzug. In der Hauptrolle: Jens Lehmann und sein Spickzettel.
«Elferheld Lehmann, unsere Hand Gottes», schrieb die Bild-Zeitung nach dem Penalty-Krimi im Berliner Olympiastadion. Deutschland hatte einmal mehr den Mythos als Turniermannschaft untermauert und die Serie gewonnener Penaltyschiessen verlängert. Dank zwei Glanztaten von Jens Lehmann lebte der Traum einer ganzen Nation vom WM-Titel im eigenen Land weiter.
Die eigentliche Schlüsselszene im Viertelfinal zwischen dem euphorisierten Gastgeber und Argentinien ereignete sich bereits Stunden vor Spielbeginn. Bei den letzten Vorbereitungen notierte Deutschlands Goalietrainer Andreas Köpke auf einem kleinen Schreibblock des Schlosshotels Grunewald die Vorlieben der gegnerischen Penaltyschützen. Noch dauerte es aber ein Weilchen, bis der Zettel den Weg zu seinem Adressaten fand.
Bei Anpfiff liegt das Stück Papier noch in der Garderobe. Nach einer torlosen ersten Halbzeit mit wenigen Höhepunkten trifft Argentiniens Abwehrchef Roberto Ayala mit einem Kopfball kurz nach der Pause. Danach kontrollieren die Südamerikaner die Partie, bis ihr Trainer José Pekerman einen Wechselfehler begeht. Er opfert in der 72. Minute seinen Regisseur Juan Roman Riquelme für den defensiv eingestellten Esteban Cambiasso. Der Gastgeber bestraft die Passivität der Argentinier mit dem Ausgleich, WM-Topskorer Miroslav Klose versetzt die 72'000 Zuschauer mit seinem fünften Turniertreffer in Ekstase. Nach 120 Minuten muss das Penaltyschiessen über Sieg und Niederlage entscheiden.
Kahns grosse Geste
Vor dem Duell vom Elfmeterpunkt ereignet sich auf dem Rasen eine der berührendsten Szenen des Turniers. Der vor der WM von Jürgen Klinsmann zur Nummer 2 degradierte Oliver Kahn reicht seinem ewigen Rivalen Lehmann die Hand und schwört ihn aufs Penaltyschiessen ein. Die Geste löst im Stadion Begeisterungsstürme aus.
Nun erhält Lehmann von Köpke den vorbereiteten Zettel. Die Namen von Riquelme, Crespo (beide ausgewechselt) und Messi (auf der Ersatzbank) sind bereits durchgestrichen. Zum ersten argentinischen Schützen findet Lehmann keine Informationen. Er ahnt zwar die richtige Ecke, doch der Schuss des eingewechselten Julio Cruz ist zu platziert.
Beim zweiten Penalty scheint der Spick ein erstes Mal zu helfen. Als Lehmann ihn aus dem Stulpen zieht, findet er bei Ayala den Vermerk «rechts». Prompt hechtet der Stammkeeper von Arsenal in die richtige Ecke und hält den Flachschuss des Routiniers. Auch beim dritten argentinischen Schützen errät Lehmann die richtige Ecke. Doch der Schuss von Maxi Rodriguez schlägt unten links ein.
«Informationen nicht wirklich hilfreich»
Wie sich später herausstellt, sind die Notizen für Lehmann wenig nützlich. «Leider waren die Informationen nicht wirklich hilfreich. Die Ecken waren aus meiner Sicht notiert, und die Schützen haben dann entgegengesetzt geschossen.» Hinzu kommt, dass die Notizen mit Bleistift geschrieben, von Schweiss verwischt und kaum noch lesbar sind. Der Spickzettel dürfte die Argentinier aber verunsichert haben.
Weil der argentinische Goalie Leo Franco gegen die Schüsse von Oliver Neuville, Michael Ballack, Lukas Podolski und Tim Borowski chancenlos ist, muss Cambiasso mit dem vierten Penalty der Argentinier treffen. Obschon es zum Inter-Spieler keine Informationen gibt, studiert Lehmann den Zettel lange. Der Psycho-Trick funktioniert, der halbhohe Linksschuss ist eine leichte Beute. «Deutschland steht im Halbfinale. Und Lehmann ist der Fussballgott heute», schreit ARD-Kommentator Reinhold Beckmann. Klinsmann verspürt Genugtuung, nachdem er für seine Wahl, sich auf Lehmann als Nummer 1 festzulegen, heftig kritisiert worden ist.
Wild-West-Szenen nach Spielschluss
Was sich nach Spielschluss ereignet, missfällt dem Bundestrainer jedoch. Noch bevor Pekerman an der Medienkonferenz seinen Rücktritt erklärt, kommt es auf dem Rasen zu unschönen Szenen. Die Argentinier fühlen sich von Borowski provoziert – das Ganze endet in einem Handgemenge und wird zum Fall für die FIFA. Neben zwei Argentiniern erhält auch der überragende Torsten Frings aufgrund einer Tätlichkeit nach Spielschluss eine Spielsperre und fehlt seinem Team im Halbfinal gegen Italien. Die Italiener setzen sich 2:0 nach Verlängerung durch und ringen im Final Frankreich im Penaltyschiessen nieder.
Für Deutschland endet das «Sommermärchen» mit einem 3:1 im Spiel um Platz 3 gegen Portugal versöhnlich. Lehmann überlässt seinen Platz im Tor Kahn, der danach seinen Rücktritt aus der Nationalmannschaft erklärt. Trotz verpasstem WM-Titel werden Klinsmann und die Spieler vor dem Brandenburger Tor in Berlin von einer halben Million Fans als «Weltmeister der Herzen» gefeiert.
Der legendäre Spickzettel hat mittlerweile seinen Platz im «Haus der Geschichte» in Bonn gefunden. Zuvor hatte ihn ein deutscher Energiekonzern bei einer Versteigerung für wohltätige Zwecke für eine Million Euro erworben und dem historischen Museum als Dauerleihe überlassen.