In den ersten 180 Minuten der Ära Murat Yakin kristallisieren sich bereits Eigenheiten des neuen Nationaltrainers heraus. Die Nachbetrachtung des 0:0 gegen Europameister Italien in fünf Teilen.
Das Sommerhoch
Auch im September ist in der Schweiz das Sommerhoch vorherrschend, denn Torhüter Yann Sommer ist weiterhin in Hochform. Eigentlich wollte Murat Yakin nicht, dass Sommer immer der Beste des Teams ist. «Weil das aufzeigt, dass etwas sonst nicht stimmt.» Aber nach dem Spiel gegen Italien war er doch froh, sagen zu können. «Yann war fantastisch. Ich bin happy über seine Top-Leistung.»
Höhepunkt dieser Leistung Sommers war der gehaltene Penalty gegen Jorginho. Innerhalb von zehn Monaten hat Sommer von Superstars wie Sergio Ramos, Kylian Mbappé und Jorginho insgesamt vier Penaltys gehalten. Dazu im EM-Viertelfinal gegen Spanien auch den Versuch von Rodri. Damit kommt Sommer von den letzten 13 Penaltys gegen ihn im Nationalteam auf eine Quote von fast 40 Prozent abgewehrter Schüsse.
Das Xhaka-Double
Yakin überraschte gegen Italien mit der Nomination von Fabian Frei im zentralen Mittelfeld. «Als Granit Xhaka ausfiel, war mir klar, dass nur Frei für diese Position infrage kam», so der Trainer. Deshalb hat Yakin Frei noch in der Nacht auf Donnerstag ein erstes Mal zu kontaktieren versucht, deshalb hat er ihn am Sonntag von Beginn an gebracht, obwohl Frei nur dreimal mit dem Team trainiert und letztmals vor dreieinhalb Jahren im Kader der SFV-Auswahl gestanden hatte.
Frei spielte, wie sich das Yakin vorgestellt hatte. Taktisch und spielerisch exzellent, mit Ruhe und Übersicht. Im erst 15. Länderspiel war der 32-Jährige trotz Kaltstart auf Anhieb ein Leader. «Er hat die anderen im Mittelfeld sehr gut geführt», sagte Yakin. Eben, fast wie Xhaka.
Die Jungen
Yakin hat die Karten im Team bei erster Gelegenheit neu gemischt – und dies nicht nur wegen der vielen Ausfälle. Er hat nicht nur Frei, der nicht einmal auf der Pikett-Liste gestanden hatte, nachnominiert und sofort eingesetzt. Er hat Michel Aebischer dem Bundesliga-Profi Denis Zakaria vorgezogen. Und er brachte nach der Pause Ulisses Garcia für Ricardo Rodriguez. Oder Andi Zeqiri für Haris Seferovic.
Es scheint, als scheue Yakin bei Personalentscheiden weder Mut noch Risiko. Er sandte am Sonntag zwei Zeichen aus: Keiner darf sich seines Platzes sicher sein. Und: Er setzt eher auf einen Stammspieler aus der Super League als auf einen Ersatzspieler im Ausland. Am Ende standen gegen Europameister Italien sechs Spieler auf dem Platz, die noch keine 20 Länderspiele absolviert haben. Frei, Garcia, Zeqiri, Aebischer, Ruben Vargas und Christian Fassnacht kommen zusammen auf 48 Einsätze für die Schweiz. Xhaka (98) oder Shaqiri (96) etwa haben alleine doppelt so viele Spiele gemacht.
Das System
Gegen Italien spielte die Schweiz in einem 4-1-4-1-System. Frei agierte im zentralen Mittelfeld alleine vor der Abwehr. Yakin liess durchblicken, dass er dieses System auch anwenden könnte, wenn die Schweiz in Bestbesetzung antritt. «Wäre Xhaka nicht ausgefallen, hätten wir schon am Mittwoch gegen Griechenland so gespielt.» Die Frage stellt sich allerdings, ob Shaqiri in diesem System auf dem Flügel nicht zu viel Lauf- und Defensivarbeit verrichten muss. Oder ob Yakin etwa Stürmer Breel Embolo opfert für einen zweiten offensiven Mittelfeldspieler in der Viererreihe hinter der Sturmspitze.
Die Flexibilität
2 Spiele, 180 Minuten – und drei oder vier verschiedene Systeme. Yakin begann gegen Griechenland mit einer Dreierabwehr, obwohl er zuvor immer wieder von der Rückkehr zur Viererkette gesprochen hatte. Er stellte in der zweiten Halbzeit das System zweimal um und liess sein Team gegen Italien in nochmals anderer Anordnung spielen. Das ist ein Bruch mit der Vergangenheit, denn Yakins Vorgänger Vladimir Petkovic liess die Schweiz fast immer gleich spielen. Er wollte dem Gegner sein Spiel aufzwingen, vor allem taktisch, auch wenn dieser Frankreich oder Spanien hiess.
Yakin dagegen will sich mehr anpassen. «Gegen Italien war vor allem wichtig, dass wir in der Defensive stabil sind. Gegen Nordirland wird dann mehr Aggressivität, Durchschlagskraft und Präsenz im gegnerischen Strafraum gefragt sein.» In Italien nennen sie Trainer wie Yakin «Mister Camaleonte», weil sie sich nicht auf ein System versteifen, sondern einem Chamäleon ähnlich immer flexibel sind und Taktik und Aufstellung aufgrund des Formstands der eigenen Spieler sowie der Stärken der Gegner wählen.