Für ein paar Ferientage zieht sich Lucien Favre in sein Domizil zurück. Entspannt spricht der Waadtländer über die erste Saison mit Dortmund und denkt in seiner grünen Idylle ans Weltklima.
Er ist zurück in seinem ganz persönlichen Naherholungsgebiet. Im Waadtländer Bauerndörfchen St-Barthélemy geniesst Favre die Ruhe. Felder, sattgrüne Wiesen, Natur am unverbauten Horizont, Idylle pur. «Jeden Sommer verbringen wir hier. Der Wald ist nicht weit, ich kann Velo fahren, spazieren, die Batterien aufladen – ein wunderbarer Ort. Ich treffe hier die Freunde meiner Jugendzeit», erzählt Favre.
Kaffee wird serviert, das Bundesliga-Geschäft ruht seit ein paar Tagen. Der Dortmunder Trainer legt eine rare Pause ein. Favre findet nach einer intensiven ersten BVB-Kampagne Zeit, sein zehntes Jahr in Deutschland einzuschätzen. «Klar bedauern wir, nicht Meister geworden zu sein. Aber mit etwas Abstand werden alle zum gleichen Schluss kommen: Es war eine gute Saison.»
Favre differenziert in der Aufarbeitung. «Es kamen verschiedene Dinge zusammen, Ausfälle verursachten Schwankungen. Im ersten halben Jahr reizten wir das Limit aus.» Die deutschen Boulevardmedien machten einen Einbruch aus, zweifelten teilweise an der Mentalität der Auswahl Favres, der Coach relativiert: «Das Ziel war, nach einem schwierigen Vorjahr wieder Stabilität zu erlangen und sich ohne Probleme für die Champions League zu qualifizieren.»
Dortmund hat im Meisterrennen die Erfahrung gefehlt
Für den Chefstrategen ist der Faktor Erfahrung im knapp verlorenen Zweikampf gegen den Serienmeister Bayern massgeblich. «Ich erinnere mich an die Champions-League-Qualifikation 2017 mit Nizza. Wir eliminierten Ajax auswärts. Amsterdam war zu unerfahren. Zwei Jahre später startete die Equipe in ähnlicher Besetzung in der Champions League durch.» In 24 Monaten sei im Top-Fussball enorm viel zu bewegen.
«Zeit zusammen zu verbringen, um Spielzüge einzustudieren, hilft enorm. Eine Entwicklung ist erst nach einer gewissen Zeit erkennbar.» Taktische Abkürzungen und Instant-Methoden passen nicht zum Fussball-Dozenten. Die kontinuierliche Arbeit im Kollektiv auf dem Platz ist für Favre entscheidend, die kompromisslose Pflege der Details hält der Romand für unersetzlich.
«Genau da wird die Basis gelegt. Zwischen den Partien spreche ich viel. An der Linie bin ich eher ruhig.» Die Spieler stünden schon genug unter Druck, sagt Favre. «Ich muss nicht zusätzlich für Wirbel sorgen.» Der 61-Jährige kopiert niemanden. Seine Ideen lassen sich ohne Lautstärke vermitteln – auch im manchmal brodelnden Ruhrpott.
Favre macht seine Teams besser
Favre ist kein Jürgen Klopp. Das wissen die BVB-Entscheidungsträger um Klubchef Hans-Joachim Watzke. Seine Herangehensweise funktioniert anders, er holt die Spieler auf einer anderen Ebene ab. Ihm stehen ein paar Hundert Millionen Euro weniger Transfergeld zur Verfügung als seinem Liverpooler Amtskollegen.
«Dortmund wird nie hundert Millionen Euro für einen Spieler auslegen.» Beunruhigt ist er deswegen nicht. «Mit dieser Philosophie bin ich zu 100 Prozent einverstanden», sagt Favre. In der Regel macht er seine Teams besser. In Echallens, Yverdon, Genf, Zürich, Berlin, Mönchengladbach, Nizza und nun auch in Dortmund fielen die Wertberichtigungen ausnahmslos positiv aus.
Favre ist mehr als nur ein Fussball-Trainer
Orts- und Themawechsel: Gros-de-Vaud, die Sonne scheint, es ist drückend warm. Der seit bald zwölf Jahren im Ausland engagierte Westschweizer blickt auf ein buntes Blumenfeld. Seine Gedanken kreisen, er schweift ab. «Wir müssen Sorge tragen zur Umwelt. Die Jungen protestieren mit gutem Grund.» Er denkt an die Flut von Flugbewegungen. «Die Menschen haben schon immer übertrieben.»
«Aber irgendwann wird es zu viel.» Favre ist wieder beim Fussball. Er sorgt sich um die Zukunft des besten Klub-Wettbewerbs, der in Richtung geschlossene Gesellschaft tendiert. Die Reformpläne für die Champions League verfolgt Favre skeptisch. «Eine Elite will das. Das ist nicht gut für den Fussball.» Und Katar 2022? Die WM im Emirat am Persischen Golf in klimatisierten Stadien? «Darüber will gar nicht erst sprechen.»