Trainer-Legende wird 75 Jahre alt Ottmar Hitzfeld: «Ich landete eine Nacht im Gefängnis»

Von Andreas Böni

12.1.2024

Ottmar Hitzfeld in Paradiso am 29. Juni 1979 während seiner Zeit beim FC Lugano: Damals kam es auch zum Intermezzo in einem Italiener Gefängnis.
Ottmar Hitzfeld in Paradiso am 29. Juni 1979 während seiner Zeit beim FC Lugano: Damals kam es auch zum Intermezzo in einem Italiener Gefängnis.
imago images/Sportfoto Rudel

Happy Birthday! Ottmar Hitzfeld wird heute 75 Jahre alt. Der zweifache Champions-League-Sieger wuchs einst in einfachen Verhältnissen auf, kriegte in der Schule noch Ohrfeigen und landete einst im Knast. blue News erzählt Episoden seines Lebens.

Von Andreas Böni

12.1.2024

Es ist ein sonniger Tag, Ottmar Hitzfeld steht auf dem Gelände der Fridolinschule im Lörracher Stadtteil Stetten. Hier besucht er ab 1956 die Schule. «Es sieht noch genau gleich aus. Mathe und Sport machte ich am liebsten. Sprachen weniger. Ich war kein guter Schüler, machte immer nur das Minimum. Mir war das Wichtigste, dass man hier draussen kicken darf.»

Das ist auch in jenem Jahr noch möglich, sagt der Hausmeister, und ergänzt, er habe zwei kleine Tore bestellt. Sein Vater habe Hitzfeld auch noch gekannt, aber er sei gestorben. «Ich erinnere mich», sagt Hitzfeld, «er hat aber auch viel geraucht.» Vier Päckchen, präzisiert der Hausmeister, und lässt Hitzfeld in sein altes Klassenzimmer. «An der Grundschule hatte ich einen sehr strengen Lehrer. Da kriegte man auch mal Ohrfeigen.»

«Zu Hause hat man das nicht erzählt, weil man dann gleich noch daheim eine Tatze kassiert hätte.» Tatze? «Man musste die Hände hinhalten und wurde dann mit einem Rohrstock geschlagen. Früher bekam man zu Hause noch den Hintern versohlt.» Die Prügelstrafe sei gang und gäbe gewesen: «In der Handelsschule gab es auch einen Lehrer, der Kopfnüsse verteilte. Kopfnüsse! Das ist heute unvorstellbar, da würdest du verklagt.»

Heute wird Ottmar Hitzfeld 75 Jahre alt. Er hat im Leben vieles erreicht, wurde mit Borussia Dortmund 1997 und mit Bayern München 2001 Champions-League-Sieger, dazu zweifacher Welttrainer des Jahres, sieben Deutsche Meister-Titel.

blue News erklärt wichtige und dramatische Lebensstationen des früheren Nati-Trainers (2008 bis 2014).

Die Kindheit

Hitzfeld wird streng erzogen: «Wenn man etwas ausgefressen hatte, gabs bei uns noch Schläge mit der Rute. Dann wurde einem der Hintern versohlt. Ich hatte fürchterliche Angst, wenn ich etwas angestellt hatte.» Dort schwindelt er auch mal: «Einmal rannte ich einen Berg hinunter, fiel hin. Mein neuer Pulli hatte ein Loch. Ich ging zu meiner Tante, bat sie, ihn zu flicken, bevor ich zu meiner Mutter ging. Ich begründete: «Der Zug fuhr mit so grosser Geschwindigkeit an mir vorbei, dass er ein Loch in meinen Pulli riss!» Sie glaubte mir zwar nicht, aber flickte ihn.»

Dort spielt er mal einen Behinderten an der Grenze: «Ich wollte mein Taschengeld aufbessern. Mir imponierte, wie Kriegsopfer Geld sammelten. Also setzte ich mich auf einen Leiterwagen, verdeckte mein Bein. So sah es aus, als ob es mir fehlt. Ich verkaufte Wiesensträusse für 20 Pfennig. Nachdem ich fünf verkauft hatte, entdeckte mich eine Nachbarin und brachte mich nach Hause. Das gab ein riesiges Donnerwetter zu Hause ...»

Wie er seine Frau kennenlernte

Seine Frau Beatrix lernt er in der Kirche kennen. «Immer wenn ich 1974 als Basel-Stürmer am Samstag spielte, ging ich sonntags in Lörrach zur Kirche. Beatrix sass mit ihren Eltern immer in der letzten Reihe. Ich dachte: «Ach, ist die hübsch und auch noch katholisch!» Damals wurde man erzogen, eine katholische Frau nach Hause zu bringen – meine Geschwister hielten sich allerdings nicht immer dran.»

Hitzfeld erzählte einst im Blick: «Ich sah sie dann in einer Disco und erschrak. Sie hatte einen anderen Freund, meinen Nachbarn, er wohnte zwei Häuser weiter. Ich musste um sie kämpfen, habe sie oft zum Essen und in die Disco eingeladen. Irgendwann entschied sie sich dann für mich. Wir zogen nach einem halben Jahr zusammen, lebten drei Monate in der gleichen Wohnung. Kurz darauf heirateten wir.»

Der andere Mann wohnt immer noch in Lörrach – «ich sehe ihn ab und zu. Dann grüssen wir uns. Aber klar, das ist etwas distanziert. So etwas vergisst man halt sein Leben lang nicht.»

Ottmar Hitzfeld mit Ehefrau Beatrix bei einer Gala (2005).
Ottmar Hitzfeld mit Ehefrau Beatrix bei einer Gala (2005).

Die Lebensgefahr

1994 soll Hitzfeld mit dem BVB ins Trainingslager fliegen, hat aber einen Hexenschuss. Hitzfeld erzählt: «Ich bekam eine Überdosis Kortison, der Darm entzündete sich. Eine Darmausstülpung platzte dann. Ich schwebte in Lebensgefahr, man musste meinen Bauch aufschneiden. Ich war lange in kritischem Zustand, auf der Intensivstation.»

Der Burnout

Im Jahr 2004 kann Hitzfeld nur noch an Fussball denken: «Ich konnte keinen Film mehr schauen, ohne abgelenkt zu sein. Bekam Rückenschmerzen und Schlafprobleme. Es ist grausam, wenn du plötzlich keine Kraft mehr hast. Im Training durfte die Mannschaft ja nicht spüren, dass ich angeschlagen bin.»

Er, der starke Mann an der Seitenlinie von Bayern München, soll dann 2004 deutscher Nationaltrainer werden. Drei Tage lang liegt er fast nur im Bett und grübelt. «Es war brutal. Auf der einen Seite war das Angebot als deutscher Nationaltrainer verlockend. Auf der anderen Seite wusste ich, dass ich keine Kraft habe. Ich hätte am liebsten nur die Decke über den Kopf gezogen und weitergeschlafen.»

Am Frühstückstisch redet er nicht, will sich den Burnout lange nicht eingestehen. Bis er ein Schlüsselerlebnis hat. Hitzfeld erzählt: «Ich fuhr Auto und hatte plötzlich ganz schlimme Platzangst. Ich bekam Atemnot, alles wurde eng, ein furchtbares Gefühl. Erst durch das Runterkurbeln der Scheiben wurde es besser. Da realisierte ich: Ich brauche Hilfe. Ich brauche einen Psychiater.» Er bekommt Antidepressiva.

Damals, 2004, hat er mit dem Fussball abgeschlossen. Eigentlich soll er Trainer der deutschen Nationalmannschaft werden, er verzichtet. «Ich wollte nie mehr Trainer sein. Ich zog mich eineinhalb Jahre nach Engelberg zurück. Erst dann war ich wieder bereit zu arbeiten. Und seither habe ich auch das Handy lautlos gestellt. Früher dachte ich immer: Jede Nachricht ist wichtig. Ich muss Tag und Nacht erreichbar sein. Das war der grösste Fehler.»

Ottmar Hitzfeld hatte stets viel um die Ohren.
Ottmar Hitzfeld hatte stets viel um die Ohren.
imago/Brenneken

Die Einbrüche

Zweimal wird Hitzfeld ausgeraubt. Das erste Mal, als er Trainer in Dortmund ist. Er erzählt: «Wir hatten ein Haus und an jenem Abend ein Champions-League-Spiel. Als wir nach Hause kamen, stand die Balkontür offen. Teppiche zusammengerollt, elektronische Geräte bereit zum Abtransport. Die Einbrecher waren vom Nachbarn gestört worden und verliessen fluchtartig das Grundstück. Aber es war ein Schock, dass alles verstreut rumlag. Dass fremde Leute in deiner Wohnung waren. Das Gefühl der Sicherheit, das du in den eigenen vier Wänden hast, ging verloren. Der psychische Schaden war enorm hoch.»

In München kommt es zu einem weiteren Einbruch. «Wir stellten die Alarmanlage nur am Tag an. Weil wir nicht für möglich hielten, ausgeraubt zu werden, während wir zu Hause sind», sagt Hitzfeld. Ein Trugschluss. «Meine Frau und ich schliefen im zweiten Stock, mein Sohn war in der dritten Etage. Als wir am Morgen aufstanden, war unten alles ausgeräumt. Fernseher, Radio, Computer, andere Wertsachen, alles weg. Auch ein Mercedes wurde gestohlen.»

Niemand erwacht. «Zum Glück nicht. Nach dem ersten Schock bat ich meine Frau, alles mit der Polizei zu regeln. Ich ging nochmals zwei Stunden schlafen. Materielle Dinge kann man ersetzen, Schlaf nicht. Ich brauchte als Bayern-Trainer die volle Power. Wie eine Niederlage muss man so etwas schnell abhaken.»

Die Nacht im Knast

Doch Hitzfeld ist bei Ärger mit Polizei nicht nur Opfer, sondern auch mal Täter. Der verhängnisvolle Abend steigt im Februar 1980, als Hitzfeld in Lugano nahe der italienischen Grenze spielt. Hitzfeld erzählt: «Mein Freund Fredy Gröbli hatte seinen Hochzeitstermin. Am Tag zuvor feierten wir seinen Polterabend. In Italien, nahe der Grenze, trafen wir uns. Feuchtfröhlich. Ja, wir waren wohl etwas angesäuselt. Nach dem Essen sahen wir, dass ein Laden noch geöffnet ist, der Besitzer aber seinen Schlüssel hat stecken lassen. Einer von uns ging hinein, um Zigaretten zu kaufen.»

Die Gruppe draussen amüsiert sich köstlich, als man den Freund im Kiosk und den Ladenbesitzer einschliesst. «Der Ladenbesitzer und unser Kumpel polterten gegen die Türen. Dann geriet der Ladenbesitzer in Panik. Er war zwei Tage vorher überfallen worden, die Diebe bedrohten ihn mit einer Pistole. Also rief er die Polizei. Die kam mit Blaulicht und Maschinenpistolen.»

Hitzfeld und seine Freunde müssen die Hände in die Luft strecken. «Die italienische Polizei nahm uns nicht ab, dass wir nur einen Scherz machten. Es war ein komisches Gefühl, das Metall der Handschellen zu spüren und abgeführt zu werden.»

Das Problem für die Gruppe: Bräutigam Gröbli muss um elf Uhr morgens im vier Stunden entfernten Zürich vor dem Standesamt sein – und seine Braut weiss zu jenem Zeitpunkt nicht, wo er ist … «Für uns war es unglaublich lustig, aber für den Bräutigam weniger», sagt Hitzfeld.

Zum Glück setzt der Präsident von Hitzfelds FC Lugano alle Hebel in Bewegung, die Gruppe wird morgens um fünf Uhr freigelassen. Und der Bräutigam schafft es Spitz auf Knopf zu seiner Hochzeit.

Die Entlassung beim Essen

Um eine Einladung gehts 2004, als Uli Hoeness Hitzfeld rausschmeisst. Der Trainer fährt mit seiner Frau Beatrix an den Tegernsee. Hitzfeld erzählt: «Ich ahnte, dass er mich an diesem Abend entlassen wird.»

So kommt es auch: Beim Essen entlässt Hoeness seinen Freund nach sechs Jahren bei Bayern. «Ich war erleichtert, sechs Jahre Bayern ist wie 20 Jahre bei einem anderen Bundesliga-Klub. Darum feierten wir bis morgens um drei Uhr.»

2019 tritt Hoeness als Präsident zurück. Hitzfeld gibt ihm damals erste Rentnertipps: «Er muss lernen, loszulassen. Den Alltag mit Frau, den zwei Kindern und vier Enkeln zu geniessen. Aber klar ist: Wer Uli kennt, der weiss: Wenn sein FC Bayern angegriffen wird, wird er sich wieder zu Wort melden.» Hitzfeld behält recht.

Ottmar Hitzfeld mit Uli Hoeness.
Ottmar Hitzfeld mit Uli Hoeness.
imago images/Sven Simon

Der Tod der Brüder

Hitzfeld wuchs mit vier Geschwistern auf. Sein ältester Bruder ist 17 Jahre älter als er, wegen des Zweiten Weltkriegs. Sein Vater, ein Zahnarzt, war als Sanitäter an der Front in Russland und kam nach dem Zweiten Weltkrieg in französische Kriegsgefangenschaft. Der Krieg hatte ihn geprägt: «Mein Vater hat nie darüber geredet. Nie. Es muss für ihn extrem schlimm gewesen sein. Du hast Familie zu Hause. Und du verabschiedest dich und weisst nicht, ob du je wieder nach Hause kommst ...», sagt Hitzfeld.

Auch Hitzfeld ist dabei einer, der vieles in sich hineinfrisst. In den 70er-Jahren stirbt sein Bruder Berthold mit 40 an Krebs. 2014 sieht die ganze Fussball-Welt, wie er nach dem WM-Achtelfinal gegen Argentinien (0:1 nach Verlängerung) am Spielfeldrand Tränen in den Augen hat.

Vier Wochen vorher hat er seinen Bruder Winfried Hitzfeld (82) verabschiedet, am Auto. Sie geben sich die Hand, ein letztes Mal. Hitzfeld befürchtet schon da: «Vielleicht sehe ich meinen lieben Bruder nie mehr.»

In der Vorbereitung auf das Argentinien-Spiel, er sitzt in seinem Hotel in São Paulo, ruft ihn seine Frau Beatrix an und sagt ihm, Winfried sei an Leukämie verstorben. Hitzfeld ist zwei Tage vor dem Spiel so traurig, dass er an Rücktritt denkt, fühlt sich kraftlos. «Ich beschloss aber, weiterzumachen, weil es im Sinne meines Bruders war. Aber ich versuchte, es geheim zu halten, alles mit mir selbst auszumachen, auch die Trauer.»

Und weiter: «Meine Frau wollte es vor mir geheim halten, aber ich sagte: Ne, ich will doch wissen, wenn mein Bruder stirbt ... Aber ich wollte es vor der Öffentlichkeit geheim halten. Nur hat es dann der Blick herausgefunden.»

Er überlegt lange, entscheidet dann: «Wenn ich vor der Mannschaft darüber rede, breche ich in Tränen aus. Also ging ich beim Frühstück zu jedem Spieler und gab ihm die Hand. Und dann versuchte ich den ganzen Fokus aufs Spiel zu legen.»

Nach der 0:1-Niederlage bricht alles aus ihm heraus. «Nach dem Schlusspfiff war der erste Gedanke wieder: Mein Bruder ist gestorben. Darum schossen mir die Tränen in die Augen am Spielfeldrand.»

Das schöne Leben heute

Ottmar Hitzfeld ist mit sich im Reinen. Drei Enkelkinder haben ihm Sohn Matthias und seine Schwiegertochter inzwischen geschenkt. So pendelt Hitzfeld nur noch zwischen dessen Wohnort München und seinem Lörrach. Hier will er dereinst beerdigt werden. Noch ist hoffentlich viel Zeit, sein Vater wurde 94. «Und die Zeit seit meiner Pensionierung nach der WM 2014 – es sind die besten Jahre meines Lebens.»


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