Umbau, Aufschwung, Rückschläge, Kritik – Lucien Favre hat bei Borussia Dortmund bereits alle Betriebstemperaturen kennen gelernt.
Am Samstag könnte der Schweizer Trainer mit seinem Team auswärts gegen Titelverteidiger Bayern München eine Fussball-Eruption auslösen.
«Alle meiner Spieler besitzen das Potenzial, weitere Fortschritte zu machen – technisch, taktisch, physisch, mental.» Diese Einschätzung stammt von jenem Mann, der die aktuelle Mannschaft von Borussia Dortmund täglich bis ins letzte Detail studiert: Lucien Favre machte sich Mitte Januar Gedanken zur zweitbesten Vorrunde der Klubgeschichte. Eine konkretere Meisterprognose liess sich der 61-jährige Westschweizer selbstredend nicht entlocken. «Ich habe die Ziele für mich persönlich notiert. Das genügt.»
Zwölf Wochen später denken sie im schwarz-gelben Teil des Ruhrpotts nicht anders. Das Zwischentief im Februar mit nur einem Sieg in acht Pflichtspielen hat im Trainerbüro weniger Staub aufgewirbelt als in der Zentrale der Schlagzeilenproduzenten. Die Klub-Verantwortlichen verloren im Winter zwar Punkte, aber nie die Nerven. Ihnen war klar, dass die verletzungsbedingten Ausfälle der Patrons Manuel Akanji und Marco Reus angesichts des nicht überdotierten Kaders Erschütterungen auslösen könnten.
Frontalangriff der «Bild-Zeitung»
Von der Kampagnen-Posse der «Bild-Zeitung» liess sich kein Dortmunder provozieren, obschon die Boulevard-Zeitung zum erbitterten Rundumschlag gegen den Trainer angesetzt hatte. «Weiss er nicht weiter – oder mal wieder nicht, worum es überhaupt geht? Er hat sich komplett abgekapselt in seiner Trainerwelt, versteckt die Titelkrise öffentlich hinter Taktikgefasel.» Das Zentralorgan der Vereinfachung übergoss Favre mit Hohn und Spott. Einen Monat später tritt der BVB als stabiler Leader zum Gipfel in München an.
Erstmals seit einer gefühlten Ewigkeit geht es im deutschen Clásico um mehr als nur eine prestigeträchtige Momentaufnahme. Dortmund besitzt die erstklassige Chance, den sechsjährigen Monolog der Bayern ernsthaft zu beeinträchtigen. Seit Jürgen Klopps letztem Titelgewinn mit Dortmund büsste die Borussia pro Saison im Schnitt 22 Punkte auf den Rekordmeister ein.
Immenses taktisches Potenzial
In diesem Jahr aber wankt der FCB sieben Runden vor Schluss, weil Favre seit dem letzten Sommer geschafft hat, was ihm seit bald 15 Jahren gelingt: Der Romand produziert bessere Ergebnisse, als es die Statistiker für möglich halten. Nach dem FC Zürich, Hertha Berlin, Borussia Mönchengladbach und OGC Nice hat er auch Borussia Dortmund wachgeküsst. Im Vergleich zum tristen Vorjahr ist der Klub nicht mehr zu erkennen. Das Tempo der Entwicklung beeindruckt sogar Favre: «Normalerweise braucht man mindestens zwei, drei Transferperioden, um eine Mannschaft aufzubauen», sagte er.
Für ihn spricht, der Zeit einmal mehr voraus zu sein. Sein taktisches Repertoire kommt ihm zupass, denn das abermals umfangreiche medizinische Bulletin zwingt ihn im unmittelbaren Vorfeld des München-Trips zu Umstellungen. Noch prüft er stundenlang Back-up-Pläne und wägt ab, wie das Saison-Out der Real-Madrid-Leihgabe Achraf Hakimi aufzufangen ist. Im von der «Bild» entworfenen Tunnel befindet sich Favre keinesfalls, seine messerscharfen Analysen entstehen bei Tageslicht.
«Zerstreuter Professor, Nerd und Zweifler»
Teilhaben lässt Favre indes nicht alle an seinen Strategien. Öffentliche Pflichttermine sind für ihn nicht da, um die Karten aufzudecken und grosse Ansagen zu platzieren. Wohl auch deshalb sind die Klischees vom «zerstreuten Professor, Nerd und Zweifler» («Tagesspiegel») schnell zur medialen Hand. Andere wie etwa Michael Jahn schauen genauer hin. Der Hertha-Kenner wird zeitnah ein Buch über Favre veröffentlichen: «Der Bessermacher».
In München könnte Favre seiner inzwischen fast zwölfjährigen Ära im Ausland einen nächsten Höhepunkt hinzufügen. Die Chancen auf ein gutes Ergebnis sind beträchtlich. 70 Prozent seiner 255 Bundesliga-Partien hat der Romand nicht verloren, seit seiner Ankunft in Nordrhein-Westfalen ging er sogar nur in acht Prozent der Fälle als Verlierer vom Rasen. Gegen die Bayern hatte selbst der frühere Meister-Coach Ottmar Hitzfeld keine bessere Erfolgsbilanz vorzuweisen – Favre kommt in 15 Duellen auf fünf Siege und drei Remis.
Dortmund will den Vertrag mit Favre frühzeitig verlängern
Auf deutscher Bühne war Favre statistisch pro Partie nie erfolgreicher und begehrter. Gegenüber dem TV-Sender «Eurosport» bestätigte Klubchef Hans-Joachim Watzke die Dortmunder Absicht, den bis 2020 fixierten Vertrag frühzeitig zu verlängern. «Dass wir weitermachen wollen, ist unstrittig. Wenn beide das Gleiche wollen, ist es relativ einfach.»
Watzke pflegt mit dem anspruchsvollen Schweizer einen guten und konstruktiven Austausch. Nach komplizierten Jahren mit Thomas Tuchel und Peter Bosz schätzt er die Zusammenarbeit mit einem geerdeten Taktgeber, der von sicher selber sagt, «man sollte als Coach nie das Gefühl haben, alles zu wissen».