Christoph Biermann ist Chefreporter beim Fussballmagazin «11 Freunde». Ein Jahr lang hat er Union Berlin begleitet und schliesslich ein Buch über den doch etwas anderen Verein geschrieben. Im Interview mit «blue Sport» spricht er darüber, was den Verein auszeichnet.
Wie kommt es, dass ein Journalist ein Jahr lang eine Fussballmannschaft begleiten darf, ist es doch normalerweise äusserst schwierig, einen Blick ins Innenleben eines Vereins zu erhaschen? «An dem Abend als Union Berlin sich in der Relegation gegen den VfB Stuttgart durchgesetzt hat und in die Bundesliga aufgestiegen ist (Anm.d.Red.: 27. Mai 2019), da hat es bei mir ‹pling› gemacht», so Biermann. Er habe schon immer eine Profi-Fussballmannschaft durch eine Saison begleiten wollen, aber da habe er gedacht: «Das könnte DIE Chance sein, weil es für Union Berlin die erste Saison in der Bundesliga war, also eine ganz besondere.»
Abgesehen davon, dass es für den Verein nicht einfach eine weitere Saison in der höchsten Liga war, spielte ihm in die Karten, dass er selbst in Berlin lebt. Denn ihm sei klar gewesen, «dass das wahnsinnig aufwendig würde, wenn man mehrere Tage in der Woche zur Mannschaft fährt». Es habe eine Weile gedauert, bis alle überzeugt davon gewesen seien, aber dann habe er loslegen können.
«Auf einmal Christoph-Sprechchöre im Essensraum und da musste ich auf einen Stuhl steigen und ein Lied vorsingen.»
Sein Ziel sei es gewesen, dass er ganz nah rankomme und zu einem Teil der Mannschaft werde. «Und das ist natürlich ein bisschen wahnwitzig, sich das vorzunehmen. Aber das ist letztendlich gelungen.» Bei Vertragsverhandlungen sei er nicht dabei gesessen, aber was das Zusammenleben in der Mannschaft angehe, da habe er einen tiefen Einblick erhalten.
Eine Anekdote veranschaulicht das ganz gut. Im Trainingslager sei er wie ein «Neuzugang» aufgenommen worden. «Auf einmal Christoph-Sprechchöre im Essensraum und da musste ich auf einen Stuhl steigen und ein Lied vorsingen.» Darauf sei er nicht vorbereitet gewesen, die Geste habe ihn überrascht. «Und weil ich wirklich kein grosser Sänger bin und kein grosses Repertoire zur Verfügung habe, habe ich «Eisgekühlter Bommerlunder» von den Toten Hosen gesungen. «Zu meinem Erstaunen kannten das auch noch alle. Es scheint immer noch ein Bierzeltklassiker zu sein und schnell haben alle mitgesungen», erinnert sich Biermann.
«Die Spieler haben mir gesagt, dass es eine grössere Verbindung zum Publikum gibt, als das sonst üblich ist.»
Es gebe eine grosse Verbundenheit zwischen den Menschen, die den Verein führen, und den Fans. «Man hört sich zu, man spricht miteinander und das führt auch zu einer grossen Intensität im Stadion, wenn dann Menschen ins Stadion kommen können.» Bemerkenswert sei auch, dass es die Regel gebe, dass man seine Mannschaft auch an schlechten Tagen nicht auspfeift. «Die Spieler haben mir gesagt, dass es eine grössere Verbindung zum Publikum gibt, als das sonst üblich ist. Es ist alles ein bisschen nahbarer.» Die Frage, ob Union Berlin ein Dorfverein ist, der in der 1. Bundesliga spielt, zaubert Biermann ein Lächeln ins Gesicht. Eine «schöne Formulierung» sei das, und: «Ja, da ist was dran.»
Dass Union Berlin als Kultverein dargestellt wird, das kann Biermann nicht ganz nachvollziehen: «Das ist so ein Etikett, das denen von draussen angehängt wird. Und was bedeutet Kult?» Er habe nie jemanden im Verein gehört, der gesagt habe, «wir sind ein Kultverein», so der Reporter. «Sie machen einfach ihre Sache, wie sie es für richtig halten und das mit einem grossen Zusammenhalt. Wenn dann irgendjemand zum Schluss kommt, das ist ein Kultverein … Gut, bitteschön. Aber darum geht es dort nicht.»
«Da sind über 2000 Leute gekommen, die Zehntausende von Arbeitsstunden investiert haben in diesen Verein.»
Speziell sei, wie viel miteinander geredet werde. «Der Verein hat mit Dirk Zingler schon einen Vereinspräsidenten, der der Big Boss ist, das ist schon so. Aber er ist gleichzeitig ein Mann, der ständig damit beschäftigt ist, von allen Seiten Meinungen einzuholen, Stimmung aufzunehmen, um dann in einer Art von innerem Diskussionsprozess darauf zu kommen, was für diesen Verein möglicherweise das Richtige ist.»
Dass sich die Leute mit dem Verein so stark identifizieren würden, habe sicherlich auch mit dem Stadionbau vor ein paar Jahren zu tun. Finanziell nicht auf Rosen gebettet, habe der Verein die Fans gefragt, ob sie beim Ausbau helfen: «Da sind über 2000 Leute gekommen, die Zehntausende von Arbeitsstunden investiert haben in diesen Verein.» Dadurch hätten viele wirklich das Gefühl: «Das ist mein Stadion.» Diese intensive Verbindung gebe es anderswo nicht.
Dass Union Berlin das alles so gut hinbekomme, liege wohl auch daran, dass die Entscheidungsträger im Verein selber Fans gewesen seien. Da seien keine Leute am Werk, die sich primär aus wirtschaftlichen oder gesellschaftlichen Interessen zu einem Engagement im Fussball entschieden hätten.
«Das heisst nicht, dass Union Berlin quasi das macht, was die Ultras wollen.»
Ein Beispiel mag das ganz schön veranschaulichen: Als sich während der Saison ein Vorsänger der Ultras, davon gebe es bei Union zwei, in den Ruhestand verabschiedet habe, da sei der Präsident vor dem Spiel zu ihm gegangen und habe ihm ein persönliches Geschenk gemacht. Eine Aktion, die von Herzen kam. Und alle im Stadion hätten gewusst, dass der Capo, wie man die Vorsänger nennt, aufhöre. «Als sein letztes Spiel vorbei war, ist die Mannschaft zur Kurve gekommen und hat ihn herunterapplaudiert und ihn dann hochleben lassen. Und ich finde, das zeigt ganz gut, wie man miteinander umgeht. Das heisst nicht, dass Union Berlin quasi das macht, was die Ultras wollen. Da gibt es auch häufig mal Zoff und Streit, aber man redet miteinander und man hat das Gefühl, dass man zusammengehört.»
Im zweiten Teil spricht Union-Experte Christoph Biermann über den Schweizer Trainer Urs Fischer, die sportlichen Leistungen des Vereins und wie das Projekt sein Blick auf das Fussball-Business verändert hat.