In der Bundesliga und privat erlebt Yann Sommer die beste Phase seiner Karriere. Im Interview mit Keystone-SDA spricht Gladbachs Goalie über Power, Stabilität und berechtigte Baby-Timeouts.
Das grosse Bild stimmt. In seiner sechsten Fohlen-Saison und nach 180 Meisterschaftsspielen ist Yann Sommer auf der obersten deutschen Klubfussball-Etage angekommen. Der 31-jährige Schweizer verlängerte vor wenigen Wochen seinen Vertrag mit Co-Leader Borussia Mönchengladbach bis 2023. Einzig das vermeidbare Out am letzten Europa-League-Spieltag im eigenen Stadion beeinträchtigt die persönliche Bilanz Sommers.
Wie schmal und unberechenbar der Grat trotz vorzüglicher Bundesliga-Klassierung bleibt, verdeutlichten die Last-Minute-Niederlagen im Europacup gegen Basaksehir Istanbul und in der Bundesliga gegen Wolfsburg. Bleibt da eine kleine Delle zurück?
Dass man in der Meisterschaft mal verliert, ist ärgerlich und in dem Moment auch enttäuschend. Aber es ist verkraftbar, weil unsere Situation weiterhin sehr gut ist. Die Niederlage in der Europa League war bitter – wir sind aus einem Wettbewerb ausgeschieden, in welchem wir ambitioniert waren. Ändern können wir nichts mehr, hinter beiden Niederlagen haben wir einen Haken gesetzt. Es geht nun darum, am Samstag mit einem positiven Ergebnis in Berlin in die Ferien zu gehen.
Das Highlight der Vorrunde war zweifelsohne die Wende gegen Bayern (2:1). Sie stoppten die Münchner im übertragenen Sinn mit dem Mittelfinger. Jene Millimeter Ballumfang auf der Torlinie passen zur Konstellation der Borussia.
Der Ball rollte in der Meisterschaft oft für uns, keine Frage. Die von Ihnen angesprochenen Millimeter haben wir uns verdient. Wir haben enorm viel in unser Spiel investiert, wir haben uns weiterentwickelt, wir bringen richtig viel Power auf den Rasen. Und gerade das Duell mit Bayern zeigte uns auf: Auch unter Druck gibt es für Mönchengladbach einen Weg zum Erfolg. Das sind überaus erfreuliche Erkenntnisse.
Sie erwähnen die Power – Marco Rose, seit dem letzten Sommer der neue Taktgeber der Fohlenelf, lebt diese Kraft an der Seitenlinie vor. Hat er mit seinem Stil inzwischen alle infiziert?
Er ist ein Trainer mit klarer Ansprache. Seine Herangehensweise ist präzise und konkret. Er verlangt schnelles Denken und höchste Konzentration. Im Training ist eine gewisse Härte spürbar. Druck und Power, Rose lebt das alles vor.
Ist das in dieser Form neu für Sie?
Diese Intensität ist eine neue Komponente – und sie tut uns gut. Wir waren immer schon eine sehr gute Mannschaft, aber manchmal fehlte uns in den entscheidenden Situationen die Überzeugtheit. So richtig erklärbar war das alles nicht. Personell haben wir im Sommer nicht jeden Stein umgedreht. Die Härte hingegen ist neu.
Sind Sie als Team robuster?
Uns ist klar, dass Ballbesitz allein nicht genügt. Gegen Bayern hatten wir in der ersten Hälfte ein paar richtig schwierige Situationen. Wir lösten sie gut und solidarisch, wehrten uns mit Händen und Füssen gegen den Einbruch. Keiner steckte auf, alle zeigten Moral, jeder machte weiter. Auf reinem Zufall beruht die späte Wende (vom 0:1 zum 2:1 in der 92. Minute) gegen den Meister nicht.
Borussia strahlt seit Wochen aus, sich vor nichts zu fürchten und für die Challenge Meisterschaft gewappnet zu sein.
Es gelingt uns gut, auch negative Dinge schnell aufzuarbeiten und ad acta zu legen. Das ist in einer auf lange Sicht komplexen Bundesliga-Saison eine wichtige Erkenntnis. Wir haben sowieso nicht viel Zeit, uns mit der jüngeren Vergangenheit zu beschäftigen. Ein Spiel jagt das nächste.
Spielt der hohe Rhythmus Ihrer Mannschaft zurzeit in die Karten?
Wenn es läuft, ist das so. Und wir haben wenig Verletzte. Der Trainer kann rotieren, kann viel frischen Wind einwechseln. Das ist hilfreich. Aber nochmals: Wir haben uns diese Konstellation mit gewaltigem Aufwand erarbeiten müssen.
Bei Ihnen kommt das Pensum im Nationalteam dazu. Der Schalter ist permanent auf Vollstrom gelegt. Spüren Sie die pausenlose Belastung im Finish vor der Winterpause?
Ich muss manchmal tatsächlich aufpassen, das System nicht komplett herunterzufahren. Sonst braucht der Körper zu lange, um wieder in Fahrt zu kommen. Beim letzten Nationalteamzusammenzug tat ich mich in den ersten Tagen etwas schwerer als üblich.
Aber Sie gönnen sich schon Timeouts ausserhalb der Rasenfläche?
Während meiner Freizeit schalte ich ab. Das hilft, Spaziergänge mit der Familie tun mir gut, etwas Regeneration für den Geist. Oft halte ich die Konzentration und Spannung auf dem Platz auf einem derart hohen Level, dass ich mir privat durchaus ein paar kurze Auszeiten gönne.
Im beruflichen Alltag sind Sie positionsbedingt ausnahmslos exponiert. Hinter Ihnen bügelt im Normalfall kein Mitspieler allfällige Fehler aus. Wie managen Sie den Umgang mit der umfangreichen Verantwortung?
Während der Spiele mache ich mir dazu keine Gedanken. Mich interessiert nur meine Konstanz. Je weniger Ausreisser ich gegen unten habe, desto besser performe ich über Wochen hinweg. Ich vereinfache meine Abläufe – nichts Kompliziertes, keine Hektik, kein Ballast. Was will ich dem Team geben, was will ich ausstrahlen, was ist wirklich wichtig?
Sie schauen als Goalie per se vorwärts – auch nach dem späten und bitteren europäischen Out gegen Basaksehir?
Mir fehlt im Moment die Zeit für ausgeprägte Analysen. Fehler gilt es abzuhaken – in guten und weniger erfreulichen Situationen ebenso. Rückschauen macht man eher nach grossen Turnieren oder frühestens in der Winterpause. Dann werde ich die eine oder andere Sache bestimmt nochmals unter die Lupe nehmen.
Deutsche Beobachter mögen neben Statistiken auch die grossen Experten-Debatten. Der frühere Keeper-Titan Oliver Kahn attestiert Ihnen «die Entwicklung zur Weltklasse». Peter Schmeichel bezeichnete Sie unlängst als einen «der meistunterschätzten Torhüter Europas».
Mich freuen die Kommentare natürlich. Es ehrt mich als Goalie, Lob von solchen Persönlichkeiten zu erhalten. Als kleiner Bub habe ich ihren Weg verfolgt, sie waren Idole von mir. Nur ändern die netten Wortmeldungen für mich so wenig wie Kritik. Genuss und Stillstand würden mir nichts bringen.
Sie haben die Kritik erwähnt. Wie nehmen Sie das mediale Spiel auf den Mann wahr? Ihr ehemaliger Coach Lucien Favre wurde in Dortmund vor dem jüngsten Aufschwung im Wochentakt öffentlich angezählt.
Sowohl die Coaches als auch die Spieler kennen das Geschäft. Man gewöhnt sich als Betroffener daran und weiss, wie damit umzugehen ist. Wichtig ist im Prinzip nur die tägliche Arbeit. Von ihr muss jeder überzeugt sein – Spieler oder Trainer, das macht gar keinen grossen Unterschied. Bei den übrigen Themen ist etwas Distanz ratsam.
Zurück zum Spitzenteam Gladbach. Beim Rekordmeister Bayern löste die eigene Topklassierung kaum je lang anhaltende Gefühlseruptionen aus, im Borussia-Park hingegen herrscht der Ausnahmezustand. Wie sehr bekommen Sie die Rückblenden auf die goldenen Siebzigerjahren mit?
Die Menschen im Stadion sind einfach nur glücklich. Sie freuen sich ganz ehrlich über den guten Fussball, den sie oft geboten bekommen haben. Sie geniessen den schönen Moment. Mit Meisterfantasien beschäftigen wir uns als Mannschaft überhaupt nicht – und auch die Fans interessiert das nicht. Wir lassen uns den Kopf nicht verdrehen.
Die Vorrunde verlief bis anhin ausserplanmässig. Der mehrjährige Solo-Unterhalter Bayern war lange hinter dem krassen Aussenseiter SC Freiburg platziert. Dortmund tat sich schwer, Leipzig macht ganz vorne Druck, die Schalker sind ebenfalls im Rennen um Platz 1.
Es ist spannend. Alle reden nur immer vom Rückstand der Bayern auf den Leader. Dabei ist Leipzig viel näher dran, Leverkusen spielte gut, Freiburg sehr gut. Es gibt überraschend viele Teams, welche mit exzellenten Chancen eine Top-5-Klassierung anpeilen. Ich rechne mit einer überaus engen Geschichte.
Eine persönliche Einschätzung zu Ihrem letzten Halbjahr. Erleben Sie die beste Phase Ihres Lebens – privat und sportlich? Sie sind Vater geworden, und mit der Borussia läuft es so gut wie seit mehr als vier Jahrzehnten nicht mehr.
Nur schon der familiäre Aspekt ist wunderschön. Es gibt nicht viel Bewegenderes auf der Welt, als die Geburt des eigenen Babys erleben zu dürfen. Ich durfte eine tolle Verantwortung übernehmen. Im Fussball erreichte ich in den letzten Monaten auf verschiedenen Ebenen wichtige Ergebnisse. Zu dieser positiven Spirale will ich Sorge tragen.
Zur glänzenden Bilanz der letzten Monate gehört auch der erneute EM-Vorstoss mit der Schweizer Auswahl.
Ich habe mich extrem über die EM-Qualifikation gefreut. Wir hatten ein paar richtig knifflige Aufgaben zu lösen. Das Heimspiel gegen die Iren auf einem katastrophalen Terrain war eine schwierige Challenge. Von einem Spaziergang waren wir in Anbetracht der vielen, teils selber verschuldeten Nebenschauplätze weit entfernt.