Lucien Favre steht mit Borussia Dortmund still. Im Telefonat spricht der Schweizer Trainer über die Krisenherde Europas in Corona-Zeiten und erklärt, weshalb er ganz auf der Linie von Joachim Löw ist.
Die Corona-Pandemie hat sich rasend schnell und flächendeckend ausgebreitet. Ein Virus legt die halbe Welt lahm. Die Regierungen haben das öffentliche Leben massiv eingeschränkt, in der professionellen Sportszene bewegt sich nahezu nichts mehr. EM-Endrunde, Champions League, Bundesliga, La Liga, Serie A, Premier League – Corona radierte den Kalender der europäischen Top-Ligen innerhalb weniger Wochen aus.
Die Entscheidungsträger wälzen im Homeoffice Notfallpläne, die grossen TV-Anstalten und Rechte-Inhaber erfinden alte Rückschauformate neu. Kurzum: Ausnahmslos jeder funktioniert im Krisenmodus, wirtschaftlich bedingte Nervosität macht sich breit. Selbst Giganten könnten ins Wanken geraten, dem Geschäftsmodell Fussball droht wie anderen Unternehmen ein Kollateralschaden.
Das Stadion von Borussia Dortmund wird temporär zum Behandlungszentrum umfunktioniert, um Patienten ausserhalb der Praxen qualifiziert zu versorgen. Trainer Lucien Favre und seine Spieler halten sich fern. Sie absolvieren auf individueller Basis im Trainingszentrum spezielle Programme. «Wir arbeiten auf vier Plätzen unter Einhaltung aller verordneten Sicherheitsvorschriften. Geduscht wird zu Hause», meldet Favre aus dem entvölkerten Stadtteil Brackel.
Favre: «Wegen mir muss sich niemand Sorgen machen»
Bald vier Wochen liegt die letzte Partie zurück – das Ausscheiden in der Champions League auswärts gegen Paris Saint-Germain (0:2). Die Analyse jenes Abends im leeren Parc des Princes behält der Westschweizer lieber für sich: «Kein Kommentar.» Ihn beschäftigt derzeit wie Millionen anderer Bürger das weltumspannende Thema. «Ich verfolge natürlich die TV-Sendungen. Es ist unglaublich, was alles passiert.» Angst vor einer eigenen Infektion und den möglichen Folgen hat der 62-Jährige nicht. «Wegen mir muss sich niemand Sorgen machen. Aber klar, meine Frau und ich passen auf. Wir bleiben so oft wie möglich in unserer Wohnung.»
Mit dem Notstand hat sich Favre arrangiert. Er freut sich über die Haltung der Profis: «Sie machen sehr gut mit.» Jeder habe den Ernst der Lage sofort erfasst. Und keiner beklage sich. «Warum auch? Man muss die Richtlinien akzeptieren. Jeder sollte vernünftig und diszipliniert sein.» Und im Hinterkopf hätten sie natürlich das Szenario, «dass es irgendwann wieder weitergeht. Es könnte sogar sein, dass wir jeden dritten Tag spielen – mit einem Kaltstart ohne Testspiele».
«Wir leben in einer verrückten Welt»
Noch haben solche Planspiele wenig Platz im Alltag von Favre. Die globale Nachrichtenlage ist zu erdrückend. «Wenn ich die Probleme der Italiener, Spanier und Amerikaner sehe, wenn ich an Indien denke, dann relativiert sich sehr viel.» Er bewegt sich auf einer ähnlichen Linie wie der deutsche Nationalcoach Joachim Löw: «Die Welt hat ein kollektives Burnout erlebt. Die Erde scheint sich ein bisschen zu stemmen und zu wehren gegen die Menschen und ihr Tun», liess Löw an einer DFB-Konferenz aufhorchen.
Löws Einschätzung hat Favre berührt: «Wir leben in einer verrückten Welt, die Probleme sind hoch komplex.» Das Schicksal der Menschen, die von Corona hart getroffen und an den Rand des Ruins gedrängt werden, geht dem BVB-Trainer nahe. Grössten Respekt habe er vor den Angestellten in den Krankenhäusern, «die sich Tag und Nacht für uns alle aufopfern».
Und dann will Favre noch über etwas anderes reden, das ihn seit langer Zeit beschäftigt. «Ich muss mit Ihnen darüber sprechen. Vergessen wir trotz Corona-Krise nicht, was seit Wochen auf der griechischen Insel Lesbos passiert: eine humanitäre Tragödie! Verlassene Flüchtlingskinder, Geschwächte, die dringend mehr Hilfe benötigen.» Er mache sich grosse Sorgen und überlege sich, etwas in eigener Initiative zu unternehmen, so Favre. «Das kann niemanden unberührt lassen.»