Der Flegel ist nicht mehr. Max Verstappen hat sich vom ungestümen Wunderkind zum besonnenen Formel-1-Fahrer entwickelt.
Diskussionen und Schlagzeilen sind für ihn Programm. Das bringt es mit sich für einen, der seit jeher für das Aussergewöhnliche steht, der die Aufmerksamkeit schon erheischt hat, ohne ein einziges Mal in einem Formel-1-Auto gesessen zu sein. Das ist kein Wunder für einen, der im Alter von 17 Jahren als Fahrer in der wichtigsten Rennserie installiert worden ist.
Zu jung sei er, die Formel 1 sei kein Kindergarten. Den Mahnfinger haben sie praktisch in allen Kreisen gehoben als Zeichen des Unverständnisses gegenüber den Dirigenten der Rennsportabteilung des Getränkeherstellers Red Bull, die Verstappens Beförderung verantwortet hatten. Der Hinweis der Oberen der Roten Bullen auf die extrem hohe Begabung ihres Schützlings verhallte praktisch ungehört.
Der Mahnfinger blieb bald einmal unten. Die Bedenken waren schnell aus der Welt geschafft. Dafür wurde immer häufiger mit dem Finger auf Verstappen gezeigt. Seine rücksichtslose Fahrweise, seine Unvernunft und Uneinsichtigkeit liessen ihn im blauen Auto zum roten Tuch werden. Für die Absicht, die Formel 1 aufzumischen, hatte er den falschen Weg gewählt. Zu oft wollte er mit dem Kopf durch die Wand.
Verstappen wurde als Schnösel und Flegel abgetan, ihm wurde zum Besuch beim Psychiater geraten. Seine kompromisslose Fahrweise, die so manchen Unfall und Ausfall eines Konkurrenten nach sich zog, löste über das Fahrerlager hinaus Kontroversen aus. Die Art, wie er zu Werke ging, war Ausdruck von Ungeduld, übertriebenem Ehrgeiz und Übereifer. Seine Sturheit behielt er auch ausserhalb des Cockpits bei. Kritik schlug er genau so in den Wind wie gutgemeinte Ratschläge.
Beeindruckende Zahlen
Seine Aggressivität hat Verstappen beibehalten. Doch die Unvernunft gehört der Vergangenheit an. Die Gegenwart sieht einen gereiften, disziplinierten Fahrer im Auto mit der Nummer 33, der das Risiko gut abzuschätzen weiss und sich kaum mehr etwas zu Schulden kommen lässt. Die Zahlen für den «neuen Verstappen» machen Eindruck. In den letzten 20 Grands Prix schied er nie aus, schlechter als Fünfter war er nie klassiert.
Der ganz grosse Schritt nach vorn liess zwar auch in der laufenden Saison vorerst auf sich warten. Doch mittlerweile läuft es wie am Schnürchen. Das Auto genügt nun auf jeder Strecke und bei allen Bedingungen höchsten Ansprüchen. Das gilt für das Chassis und den von Honda gelieferten Antriebsstrang. Mit den Japanern haben sie bei Red Bull nach der in den letzten Jahren aufwühlenden, mehrheitlich unbefriedigenden Zusammenarbeit mit Renault wieder einen verlässlichen Partner an ihrer Seite.
Das eine tun und das andere nicht lassen – Verstappen hat die Erfolgskomponenten verinnerlicht. Damit ist er endlich zu dem Faktor in der Formel 1 geworden, den sie in ihm bei Red Bull schon vom ersten Tag an gesehen haben. Er haucht der Szene dringend benötigtes neues Leben ein. Mit seinen Siegen in Spielberg und Hockenheim hat er zwei hoch willkommene Farbtupfer in die lähmende silberne Monotonie gesetzt.
Die zwei Siege in den letzten drei Grands Prix haben genügt, um die Diskussionen mit Verstappen im Zentrum auf einer anderen Ebene neu zu lancieren. Die Kritik hat der uneingeschränkten Bewunderung Platz gemacht. Alle sind sie des Lobes voll über den Wunderknaben. Christian Horner, der Teamchef von Red Bull, hat ihn unlängst den «derzeit besten Formel-1-Fahrer» genannt. Nico Rosberg ist überzeugt, dass er in einem gleichwertigen Auto im Vergleich zu Lewis Hamilton der Schnellere wäre.
Diesen direkten Vergleich soll es möglicherweise schon in der nächsten Saison geben. Seit Tagen rankt sich um Verstappen das Gerücht, dass er am Ende des Jahres zu Mercedes überlaufen könnte.
Geht es nach Helmut Marko, dem Motorsportchef von Red Bull, soll das eigene Auto noch im Lauf dieser Saison auf einer Stufe mit dem Mercedes stehen. Die nächste Ausbaustufe des Antriebsstrangs, deren Einsatz für Anfang September im Grand Prix von Italien geplant ist, soll dazu ebenso beitragen wie weitere Verbesserungen am Auto selber. Marko glaubt deshalb sogar, dass Verstappen noch in diesem Jahr in den Titelkampf wird eingreifen können.
Die grosse Hypothek
Dem Glauben des Österreichers steht der nach wie vor grosse Rückstand Verstappens auf Hamilton in der WM-Wertung gegenüber. Der führende Engländer hat 63 Punkte mehr auf dem Konto als der drittklassierte Niederländer – eine happige Hypothek für die zweite Saisonhälfte.
Verstappen selber gibt sich keinen Illusionen hin. Er sieht Red Bull weiterhin nicht auf dem Niveau von Mercedes und deshalb die Zeit für die Wende in der Hierarchie noch nicht gekommen. Mit dem möglichen Titelgewinn beschäftigt er sich nicht. Er denkt in kleineren Schritten, von Rennwochenende zu Rennwochenende.
Verstappens neue Reife beschränkt sich nicht auf die Arbeit am Steuer des Red Bull. Sie schliesst auch das realistische Denken mit ein.