Die Formel 1 macht am Wochenende in Silverstone einen historischen Schritt. Im Rahmen des Grand Prix von Grossbritannien steht zum ersten Mal in der Geschichte der Serie ein Sprintrennen im Programm.
Die Suche nach Attraktivitätssteigerung für die Formel-1-WM hat schon zu irrwitzigsten Ideen geführt. Völlig absurde Vorschläge hatte etwa der damalige, kürzlich verstorbene FIA-Präsident Max Mosley zu Beginn dieses Jahrtausends ins Spiel gebracht. Zusatzgewichte – pro gewonnenem WM-Punkt könnte den Autos ein Kilogramm ergänzend beigepackt werden – und Cockpit-Wechsel – jeder Fahrer müsste in jedem der ersten zehn Grands Prix einer Saison ein anderes Auto steuern – sollten für mehr Ausgeglichenheit sorgen. Über den Wert einer Posse kam Mosley mit seinen Gedanken selbstredend nicht hinaus.
Dauerthema Qualifying
Immer wieder Teil der Traktandenliste für die Sitzungen der Formel-1-Kommission, in der Vertreter des Internationalen Automobilverbandes FIA, der Rechteinhaber, der Teams und der Motorenhersteller Einsitz haben, ist auch das Thema Qualifying. Das Einzelzeitfahren wurde auf die Saison 2003 eingeführt und in den folgenden drei Jahren stetig bis zum aktuellen, dreiteiligen Format angepasst. Der bisher letzte Versuch, den Modus zu optimieren, erlitt vor fünf Jahren totalen Schiffbruch. Der neue Ansatz, nach dem alle 90 Sekunden der jeweils langsamste Fahrer ausschied, wurde schon nach den Grands Prix von Australien und Bahrain und vernichtender Kritik wieder aus dem Reglement eliminiert.
Die Idee eines Sprints geisterte schon länger in den Köpfen der Verantwortlichen herum, die Umsetzung scheiterte aber vorab am Veto der Führung einzelner Teams. Der erste Vorschlag, für die Startaufstellung für das verkürzte Rennen am Samstag die umgekehrte Reihenfolge des WM-Klassements herzunehmen, fand nicht die erhoffte Zustimmung.
Die ausgefeilte Variante macht nun aber offenbar für alle Beteiligten Sinn. Sie hat das Potenzial, über den Status des Versuchsballons hinauszukommen. Sie verspricht zusätzliche Spannung, garantiert für jeden der drei Tage eines Grand-Prix-Wochenendes einen Höhepunkt – und generiert damit wohl auch mehr Aufmerksamkeit.
Qualifying am Freitag
Das Rennwochenende in Silverstone beginnt am Freitag mit einem einstündigen freien Training. Die zweite Einheit entfällt, stattdessen wird ein Qualifying im herkömmlichen Sinn ausgetragen, in dem die Startplätze für das Sprintrennen bestimmt werden. Am Samstag steht vorerst ein zweites Training im Programm, gefolgt von der Sprintprüfung am frühen Abend. Die Distanz ist auf 100 Kilometer festgelegt, was rund einem Drittel eines Grand-Prix-Pensums entspricht. In Silverstone müssen dafür 17 Runden absolviert werden. Aufgrund des Klassements wird die Startaufstellung für den Grossen Preis am Sonntag erstellt. Dazu gibt es für die ersten drei Punkte, drei für den Sieger, zwei für den Zweiten und einen für den Dritten.
Das technische Reglement ist entsprechend angepasst. In Silverstone stehen den Fahrern statt der üblichen 13 nur 12 Reifensätze zur Verfügung, und zwar einheitlich sechs Garnituren der weichen, vier der mittleren und zwei der harten Mischung. Im Qualifying dürfen ausschliesslich die weichsten Pneus verwendet werden. Im Grand Prix dagegen ist die Reifenwahl frei. Die ersten zehn sind also von der Pflicht befreit, mit jener Sorte zu starten, mit der sie ihre beste Rundenzeit im zweiten Teil der Qualifikation erreicht haben.
Die einschneidendste Veränderung im Vergleich zum üblichen Prozedere betrifft den sogenannten Parc Fermé, in dem an den Autos schon ab Freitagabend keine wesentlichen Anpassungen mehr vorgenommen werden dürfen.
Zwei weitere Testläufe
Nach der Premiere in England soll das neue Format an zwei weiteren Grand-Prix-Wochenenden angewandt werden, Mitte September in Monza und Anfang November in São Paulo. Ob in Brasilien allerdings überhaupt gefahren wird, ist aufgrund der Corona-Pandemie fraglich.
Ross Brawn, der Sportdirektor der FIA, ist auf jeden Fall zuversichtlich, dass das angepasste Programm auf ausgesuchten Strecken über diese Saison hinaus Zukunft hat. Der Engländer sieht darin eine Gelegenheit zur «konstruktiven Weiterentwicklung unseres Sports».
Brawn steht mit seinem Optimismus nicht alleine da. Der Glaube an das neue Produkt scheint in der Formel 1 weit verbreitet. Es ist alles andere als eine irrwitzige Idee.