Lewis Hamilton sieht sich auch als fünffacher Formel-1-Weltmeister noch nicht im Zenit seines Schaffens. Sein Drang nach Perfektion ist ungebrochen.
Die beste Saison. Das hatten wir doch schon. Bereits vor zwölf Monaten hatte Hamilton von seinem besten Jahr in der Formel 1 gesprochen, so tat er es vor kurzem erneut. Das übliche Geschwafel halt, könnte man meinen. Doch der Eindruck täuscht.
Es sind keine dahergeredeten Banalitäten, die Hamilton euphorisiert und vom Erfolg beseelt von sich gegeben hat. Der 33-jährige Engländer weiss seine Leistungen richtig einzuschätzen. Er nimmt nicht die Anzahl Siege als alleinigen Massstab, um seine Performance zu bewerten. In sein Résumé lässt er weitere Kriterien einfliessen, als wichtigstes Faktum die Konkurrenz.
Die neue Situation
Diesbezüglich sah sich Hamilton mit einer neuen Situation konfrontiert. Im fünften Jahr mit den Turbo-Hybrid-Antrieben in der Formel 1 war Mercedes zum ersten Mal nicht die uneingeschränkte Macht. Zwischenzeitlich hatten sie im silbernen Lager sogar konstatieren müssen, dass Ferrari mit Sebastian Vettel aus technischer Warte die Hoheit übernommen hatte.
Doch Hamilton liess sich dadurch nicht beirren. Er nahm die Herausforderung an. Das Ungewohnte stachelte ihn zusätzlich an. Er liebt ja nichts mehr, als sich auf der Rennstrecke mit Kontrahenten auf Augenhöhe zu messen. «Das ist für mich das wahre Racing», hat er einmal gesagt.
Hamilton löste die erschwerte Aufgabe mit Bravour. Die zahlreichen Fehler und Pannen von Vettel und Gefolge waren auf dem Weg zum fünften Titelgewinn sicherlich hilfreich, doch entscheidend war der «Faktor Hamilton». Der Brite spielte seinen Part perfekt, so gut wie noch nie.
Hamilton weiss, dass er sich in der zu Ende gehenden Saison am obersten Limit des Machbaren bewegt hat. Gleichwohl sieht er sich noch nicht im Zenit seiner Leistungsfähigkeit. Er macht weiteres Steigerungspotenzial aus. Er glaubt, auch im fortgeschrittenen Alter an seiner Aufgabe noch wachsen zu können. Die Tätowierung auf dem Rücken ist nicht zufällig gewählt. «Still I rise» - «Ich steigere mich immer noch».
Die neue Harmonie
Das hohe Niveau, das Hamilton vorab in dieser und der letzten Saison an den Tag gelegt hat, lässt sich begründen. Zum einen ist da die wieder hergestellte Harmonie im Team. Hamilton fühlt sich bei seinem Arbeitgeber rundum wohl. Er ist erleichtert, dass die internen Grabenkämpfe nach dem Abgang von Nico Rosberg ein Ende haben. «Mein Umfeld hat sich enorm verbessert, die Stimmung hat sich zum Positiven gewandelt. Ich gehe wieder gerne zur Arbeit.»
Die Basis für den Aufstieg zum absoluten Primus in der Formel 1 hat sich Hamilton selber geschaffen. Er legt noch mehr Wert auf seine Fitness, ernährt sich mittlerweile vegan und hat auch an mentaler Stärke zugelegt. Vor allem aber hat er sich am Steuer stetig weiterentwickelt. Seine Fahrten sind geprägt von Besonnenheit, Taktik und Intuition.
Dass der Fahrer Hamilton seine Grenzen weiter ausloten kann, dafür muss sich auch der Mensch Hamilton stetig verändern. Der Mensch Hamilton stellt sich dieser Herausforderung. Er tut das in seiner eigenen Welt, die sich zwischen den Grand-Prix-Wochenenden so sehr von jener der anderen Fahrer unterscheidet.
Der Privatmann Lewis Hamilton polarisiert. In der öffentlichen Wahrnehmung pendelt er zwischen Arroganz und Lebensfreude. In dieser Bandbreite tobt er sich aus. Hamilton selber mag sich aber nicht auf sein extravagantes Äusseres und seinen Lebensstil reduzieren lassen. Für ihn ist «Freiheit die Chance zu wachsen». Das Leben in den zwei Welten sieht er als perfekte Symbiose.
Am Steuer des Mercedes geht Hamilton seinem Beruf nach, der ihm Erfüllung, Ruhm und Bestätigung bringt und nach wie vor uneingeschränkten Spass bereitet. Daneben findet er die nötige Abwechslung und kann er ausbrechen aus dem strukturierten Alltag. Die Überzeugung, auch abseits der Paddocks den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, hilft ihm bei seinem steten Streben, die persönliche Weiterentwicklung voranzutreiben.
Die neuen Welten
Der Reifeprozess eröffnet Hamilton neue Welten. Aus dem schüchternen, in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsenen und an Legasthenie leidenden Jungen ist ein selbstsicherer Mann geworden. Sein Blickwinkel vergrössert sich ständig. Er versorgt seine Follower nicht mehr nur mit herkömmlichen Sequenzen aus dem Alltag. Mittlerweile nutzt er die sozialen Netzwerke auch, um zu ökologischen und politischen Themen Stellung zu beziehen. «Ich mag es, meinen Geist herauszufordern.»
Gleichwohl bleibt es eine hektische Welt, in die Hamilton in seiner Freizeit eintaucht. Sie dient ihm trotz aller Unruhe als Kraftwerk, das am Ursprung seines erfolgreichen Wirkens in der Formel 1 steht. Die Rennstrecken sind weit weg, wenn er um den Globus jettet, Gitarre oder Klavier spielt, Songs komponiert oder in den Kosmos der Mode eintaucht.
Die Mode beschäftigt ihn mehr denn je. Die erste Kollektion, die er in diesem Jahr mit dem Label Tommy Hilfiger und in enger Zusammenarbeit mit dem Schweizer CEO Daniel Grieder entworfen hat, soll lediglich der Anfang sein. Hamilton kann sich gut vorstellen, nach dem Ende seiner Karriere als Rennfahrer hauptberuflich in der Fashion-Welt Fuss zu fassen.
Vorerst bleibt die Formel 1 das Zentrum von Hamiltons Berufswelt. Sein im Juli unterzeichneter neuer Vertrag hat für die nächsten zwei Jahre Gültigkeit. Zwei Jahre Zeit, das Limit weiter auszuloten. Zwei Chancen auf eine neuerlich beste Saison.