Karateka Elena Quirici zeigte eine bärenstarke Gesamtleistung und scheiterte denkbar knapp am Halbfinal-Einzug, der mindestens Bronze in der Klasse +61 kg bedeutet hätte. Aber ging alles mit rechten Dingen zu und her?
Die Aargauerin blieb faktisch unbesiegt, denn auch bei der einzigen «Niederlage» aus vier Vorrunden-Kämpfen (noch 1 Remis und zwei Siege) gab lediglich der erzielte Führungspunkt der nachmaligen ägyptischen Olympiasiegerin Feryal Abdelaziz den Ausschlag gegen die Aargauerin.
Am Ende fehlten ihr zwei mickrige Pünktchen. «Ich wollte für meine Familie und den Verband diese Medaille gewinnen», sagte eine bitter enttäuschte Quirici in einer ersten Reaktion gegenüber dem Schweizer Fernsehen. Reichlich Tränen flossen da bei der 27-Jährigen, der enorme Frust war überaus nachvollziehbar. Da Quirici als erste Kämpferin ihr Vorrunden-Pensum absolviert hatte, musste sie tatenlos zusehen, wie sich das Blatt gegen sie wendete. Und es darf spekuliert werden, ob die Sportlichkeit von allen Involvierten gewahrt blieb. «Was in meiner Hand lag, habe ich gegeben», sagte Quirici später gegenüber «blue news».
Erinnerungen an Fussball-WM-Skandal 1982
Als die Chinesin Gong Li im letzten Duell dieser Vorrunden-Gruppe gegen die angeschlagene Iranerin Hamideh Abbasali acht Punkte realisierte, fing sie Quirici noch vom 2. Platz ab. Kurz davor hatten sich die spätere Goldmedaillen-Gewinnerin Abdelaziz und die bereits chancenlose Algerierin Lamya Matoub ein enorm passives Duell (0:0) geliefert, das der Ägypterin mit dem Remis zum Weiterkommen ausreichte. Die Möglichkeit zu Absprachen bei der Karate-Premiere in Tokio war aufgrund des Vorrunden-Modus zumindest nicht auszuschliessen. «Doch es müssten Beweise geliefert werden», betonte Nationaltrainer Gianfranco Pisoni gegenüber «blue news».
Das «Duell» der beiden Nordafrikanerinnen erinnerte indes an das negativ in die Geschichte eingegangene Fussball-WM-Vorrunden-Spiel mit Nichtangriffs-Pakt von 1982 in Spanien, als Deutschland und Österreich nach der 1:0-Führung der Deutschen den Ball für den Rest der Partie nur noch hin und her schoben. Damals war Algerien das leidtragende Team gewesen.
«Das Ganze war auch für Beobachter, die sich nicht täglich Karate ansehen, ziemlich offensichtlich», urteilte Raoul Cuerva Mora, der spanische Freund und häufige Sparringspartner von Quirici, bei «blue news».
«Mein Fehler, dass ich nicht alle Kämpfe gewann»
Beim deutlichen Abschluss-Vorrundensieg der Chinesin Gong Li kritisiert der frühere WM-Fünfte Mora zudem das Verhalten des Schiedsrichters: «Bei einer hinderlichen Verletzung ist vorgesehen, dass abgebrochen werden sollte. Dies hätte dann als Resultat auch nur ein 4:0 für die Chinesin ergeben, und Elena wäre dann weitergekommen.» Quirici selbst folgerte: «Mein Fehler war, dass ich nicht alle Kämpfe gewann.» Für sie sei indes als Beobachterin klar gewesen, dass bei Olympia weniger schnell abgebrochen würde. Zudem seien die Schiedsrichter auch bloss Menschen, und es stünde in ihrer eigenen Verantwortung, ausreichend Punkte zu erzielen.
Bitter war vorab der Verlauf ihres eigenen Abschluss-Kampfes gegen Gong Li, gegen die sie sich mit einem 1:1 begnügen musste. Im März war sie im Final in Lissabon gegen die gleiche Gegnerin noch chancenlos gewesen, diesmal stand sie dem Erfolg deutlich näher. 0,6 Sekunden vor Ende blieb ihr nach Video-Replay die mögliche Siegwertung noch hauchdünn verwehrt. «Ich war die bessere Kämpferin», hielt Quirici zurecht fest.
Nur schon aufgrund ihrer dramatisch und enorm hart erkämpften Olympia-Qualifikation, die sie sich aufgrund des Weltverband-Entscheides zweimal erkämpfen musste, wäre ein Medaillengewinn von Quirici hochverdient gewesen. Nationaltrainer Gianfranco Pisino zeigte sich gegenüber «blue news» trotz dem ausgebliebenen Happy-End erfreut, dass seine Athletin bei Olympia ihr Potenzial beim Karriere-Höhepunkt vollends abrufen konnte. «Und die Qualität, die sie im Laufe der Jahre durch ihren enormen Willen zur ständigen Verbesserung entwickelt hat, ist geradezu monströs.» Auch Mora erkannte kaum Steigerungspotenzial in der Leistung, die seine Freundin Quirici ablieferte.
Enorme Beweglichkeit
Tatsächlich wirkte Quirici so dynamisch und agil wie keine andere ihrer ausnahmslos grösseren und deutlich schwereren Konkurrentinnen. Kein Wunder, die explosive Aargauerin erreichte auch nur knapp das Mindestlimit ihrer Olympia-Kategorie von 61 kg und darüber.
Auch wenn das Karate nach seiner olympischen Premiere in Tokio bereits 2024 in Paris nicht mehr im olympischen Programm fungiert, will die Einzel-Europameisterin von 2016 und 2018 ihre Karriere noch nicht beenden. Die WM in Dubai steht vom 17. bis 21. November im Programm. Und dort will Quirici im Kampf um Gold mitmischen. Noch offen ist, in welcher Kategorie Quirici dann antritt. Für Olympia wurden die Gewichtsklassen zusammengeführt; das Nadelöhr für die Qualifikation für eine der drei Kategorien mit jeweils lediglich 10 Startplätzen entsprechend eng. An der WM werden es wieder fünf und damit zwei Gewichtsklassen mehr sein.