Der traurige Absturz der 15-jährigen Eiskunstlauf-Prinzessin Kamila Walijewa in der Olympia-Kür entsetzt auch IOC-Chef Bach. Vor allem am Verhalten ihrer Trainerin gibt es scharfe Kritik. Athletenvertreter fordern einen humaneren Sport, andere Konsequenzen könnten folgen.
Das verstörende Eiskunstlauf-Drama um die 15 Jahre alte Kamila Walijewa hat Rufe nach harten Strafen für ihr gefühlskaltes Umfeld und einem Mindestalter für Olympia-Starter befeuert. «Als ich gesehen habe, wie sie von ihrem Umfeld empfangen wurde, mit etwas, was mir wie eine enorme Kälte vorkam – mir lief es kalt über den Rücken, zu sehen, was da geschah», sagte IOC-Präsident Thomas Bach am Freitag in Peking zu den verstörenden Szenen bei der Kür der Damen. «Statt sie zu trösten, statt ihr zu helfen, nachdem was geschehen war, konnte man spüren, wie eiskalt die Atmosphäre war», kritisierte der Präsident des Internationalen Olympischen Komitees.
Nach dem tagelangen Wirbel um ihre positive Dopingprobe und dem Kampf um den Olympia-Start im Einzel zerbrach die Topfavoritin Walijewa im Eis-Oval des Capital Indoor Stadium unter dieser Last und stürzte mit groben Sprungfehlern auf den vierten Platz. Gold ging an die russische Weltmeisterin Anna Schtscherbakowa, Silber an Teamkollegin Alexandra Trusowa. Bronze holte Kaori Sakamoto aus Japan.
Als Konsequenz aus dem Skandal drängt das IOC die Weltverbände, die Einführung eines generellen Mindestalters im Spitzensport zu prüfen. «Diese Fragen müssen angegangen werden», sagte Bach. Es brauche aber «sorgfältige Überlegungen und Beratungen». Das IOC werde die Debatte mit den Weltverbänden in Gang bringen. Entscheiden können nur die Fachverbände, nicht das IOC. Bislang gibt es nur in wenigen olympischen Sportarten wie im Turnen ein Mindestalter für Teilnehmer.
Harsche Kritik der Trainerin
Walijewa musste nach der verpatzten Kür auch noch die Kritik ihrer Trainerin Eteri Tutberidse aushalten. Statt von ihr getröstet und in den Arm genommen zu werden, schimpfte diese über die Fehler ihres Schützlings. «Warum hast du alles so aus den Händen gegeben? Warum hast du aufgehört zu kämpfen? Erklär mir das!», wetterte die 47-Jährige, die mit grosser Härte Talente zu Medaillengewinnern formt, die oft nach kurzer Karriere wieder von der Eisfläche verschwinden.
Ob Tutberidse das auch mit verbotenen Mitteln forciert, dürfte im Verfahren um den Doping-Fall Walijewa eine wichtige Rolle spielen. Die Europameisterin war bereits am 25. Dezember positiv auf das verbotene Herzmittel Trimetazidin getestet worden. Ihre Anwälte behaupten, das Mittel könne beim Trinken aus dem Glas des herzkranken Opas in ihren Körper gelangt sein.
Selbst der im Umgang mit Russland sonst so diplomatische Bach hält Walijewa für ein Opfer und geht in dem Fall auf Distanz zu dem Land, das für Olympia noch gesperrt ist und dessen Athleten in Peking ohne Flagge und Hymne antreten: als Folge von Doping-Vertuschung im grossen Stil. «All das vermittelt bei mir kein besonderes Vertrauen in dieses Umfeld von Kamila – weder in Bezug auf die Situation, die sich in der Vergangenheit abgespielt hat, noch die Zukunft», betonte er.
Russen weisen Kritik zurück
Frostig wies Russlands Vize-Ministerpräsident Dmitri Tschernyschenko die Bach-Kritik als «unangemessen und falsch» zurück. Er sei zutiefst enttäuscht darüber, einen IOC-Präsidenten zu erleben, «der sein eigenes fiktives Narrativ zu den Gefühlen unserer Athleten spinnt», sagte der Spitzenpolitiker dem Branchendienst «insidethegames».
Scharf pariert wurde die Bach-Kritik aus Moskau. «Ihm gefällt die Härte unserer Trainer nicht, aber alle wissen, dass im Spitzensport die Rigidität des Trainers der Schlüssel zum Sieg seiner Schützlinge ist», sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow. Der Kreml gratuliere den Medaillengewinnern und rief dazu auf, stolz auf sie zu sein. «Nun ja, Walijewa ist Vierte geworden. Im Hochleistungssport gewinnt eben der Stärkste.»
In der Tragödie um das schutzlos wirkende Schlittschuh-Wunderkind steht aber auch das IOC in der Kritik, das nach Ansicht des Vereins Athleten Deutschland den Schutz von Walijewa hätte gewährleisten müssen. «Es hätte geprüft werden müssen, ob sie in der Verfassung für eine Teilnahme am Wettbewerb war», sagte Maximilian Klein, Sprecher für internationale Angelegenheiten. Stattdessen hätten alle Beteiligten «organisierte Verantwortungslosigkeit walten und die Athletin sehenden Auges in diese Situation schlittern lassen».
Das internationale Sportsystem dürfe nicht länger Anreize bieten, Athletinnen und Athleten für sportlichen Erfolg auszubeuten und dabei ihre Menschen- und Kinderrechte zu verletzen. «Sie haben ein Recht auf bestmöglichen Schutz und einen humanen Spitzensport», betonte Klein.
Trost und Zuspruch
Auch DOSB-Chef Thomas Weikert schmerzte die fehlende Fürsorge für die 15 Jahre alte Sportlerin. «Hier muss das Wohl der Athletin an oberster Stelle stehen», sagte der Präsident des Deutschen Olympischen Sportbundes. Für ihn sei es sehr verstörend, die Bilder von ihr zu sehen, «insbesondere die unempathische Reaktion ihrer Trainerin».
Getröstet wurde die junge Europameisterin von der früheren Tutberidse-Schülerin Jewgenia Medwedewa. «Ich bin so glücklich, dass diese Hölle für dich vorbei ist», postete die Olympia-Zweite von 2018 auf Instagram. «Ich gratuliere dir zum Ende der Winterspiele und hoffe, dass du ruhig leben und atmen kannst.» Auch aus Deutschland bekam Walijewa Zuspruch. «Meine liebe süsse Kamila! Ich bin mir sicher, dass alles, was du durchgemacht hast, dich nur noch stärker machen wird!», schrieb Paarlauf-Olympiasiegerin Aljona Savchenko ebenfalls auf Instagram. «Du bist die Geisel der Situation.»
Unterdessen wollen die Anwälte von Walijewa mithilfe der B-Probe ihre Unschuld beweisen. Sie werde die Untersuchung beantragen, da unter anderem ein technischer Fehler des Stockholmer Kontrolllabors bei der Analyse ihres Dopingtests vorgelegen haben könnte, erklärten ihre Juristen. Dies geht aus der 41-seitigen Urteilsbegründung in dem Fall hervor, die der Internationale Sportgerichtshof Cas veröffentlichte. In ihrer Verteidigung verwiesen Walijewas Rechtsbeistände auf die «extrem niedrige Konzentration» des verbotenen Trimetazidin, das in der A-Probe nachgewiesen worden war.
«Jetzt ist ihre Karriere ein Sprung ins Ungewisse», schrieb die italienische Zeitung «La Repubblica» zum Ende «eines der traurigsten Kapitel der Olympische Spiele». Für die «Washington Post» ist die Qual von Walijewa «das traurige Vermächtnis der Peking-Spiele».