Tränen abwischen, weiterarbeiten Der Medaillen-Traum von Stefan Reichmuth lebt weiter

Von Richard Stoffel

5.8.2021

Stefan Reichmuth muss sich in Tokio mit einem Olympia-Diplom zufriedengeben.
Stefan Reichmuth muss sich in Tokio mit einem Olympia-Diplom zufriedengeben.
Bild: KEYSTONE

Stefan Reichmuths Medaillen-Traum bei Olympia ist nach dem geteilten 7. Rang aufgeschoben, aber noch nicht aufgehoben. Das Scheitern in Tokio soll als Sprungbrett für einen neuen Anlauf dienen. Bei Olympia 2024 in Paris.

Von Richard Stoffel

Mit einem lauernden Löwen im Hintergrund und den Worten: «Es ist an der Zeit, dass ich mir hole, was mir zusteht», kündigte Reichmuth in seinem Whatsapp-Status noch seine Entschlossenheit für den zweiten Wettkampftag an. Doch der Siegeswillen reichte nicht aus. Die Beine versagten und die Kraft ging aus, um im Finish des Hoffnungsrunden-Kampfes bei einem 2:5-Rückstand eine Wende herbeizuführen.

«Der Usbeke wäre absolut in der Reichweite von ‹Stifi› gewesen. Schade», meinte Leistungssportchefin Monika Kurath nach der Hoffnungsrunden-Niederlage. Der ursprüngliche Russe Jawrail Schapjew war an den WM 2019, als Reichmuth als Bronzemedaillen-Gewinner auch das direkte Olympia-Ticket gelöst hatte, «nur» Zwölfter gewesen.

Nationaltrainer Nico Ghitae stellte gegenüber «blue News» fest: «Die ersten zwei Minuten gingen gut, dann verlor Stefan ein wenig die Konzentration. Schliesslich war er komplett leer in der zweiten Hälfte des Kampfes. Das werden wir noch analysieren.» Reichmuth selbst wollte «keine Ausreden» suchen. Ghitae erwähnte die Verletzungen am Knie, Arm oder am Nacken, «die ein bisschen die Kontinuität in der Vorbereitung gebrochen haben».

Reichmuth misst sich mit dem Usbeken Shapiev Jayrail.
Reichmuth misst sich mit dem Usbeken Shapiev Jayrail.
Bild: KEYSTONE

Stockender Atem und Tränen

Reichmuth tröstete der Diplom-Gewinn nur bedingt über die Niederlage im ersten Direktduell gegen Schapjew hinweg. Dem 26-jährigen Luzerner stockte mit Fortdauer seines Interviews mit SRF der Atem, Tränen flossen. Die ganze Wucht der Enttäuschung, die Schweizer Medaillen-Flaute der Ringer bei Olympia seit 1984 (noch) nicht beendet zu haben. Das grosse Ziel war verfehlt. Die knallharte und überlange Vorbereitung auf die um ein Jahr verschobenen Olympischen Spiele kamen dem Freistil-Spezialisten im Limit bis 86 kg hoch. Das spartanische Leben als «Sportmönch» mit den vielen Ausland-Trainingslagern, aber auch eine mehrwöchige, 16-stündige Kasernierung im Höhenzimmer in Magglingen, um die Anzahl roter Blutkörperchen und damit die Ausdauer-Kapazität zu erhöhen.

Nach seinen drei Kämpfen in Tokio spürte Reichmuth in der Enttäuschung auch den körperlichen Tribut. Weniger den verlorenen halben Zahn aus dem ersten Kampf oder dem Veilchen unterhalb des linken Auges aus seinem dritten Kampf. Die Anstrengungen der letzten Monate und Tage machten sich an Knie, Schulter und Hüfte bemerkbar. Doch den grössten Schmerz empfand er für sein unterstützendes Umfeld und die Familie, «für die ich so gerne eine Medaille geholt hätte». Die ihm zugesandten Bilder vom heimischen Public Viewing mit «propenvollen Zuschauer-Rängen» in Grosswangen berührten ihn tief.

Auch deshalb möchte er es 2024 in Paris «besser machen», obschon der Weg alleine schon mit der Qualifikation knallhart und steinig sein wird. «Es gibt jetzt nur eins: weiterarbeiten», so Reichmuth. «Denn der Traum lebt weiter.» Für ihn gilt weiterhin das Motto aus seinem Whatsapp-Profil: «You say I dream too big, I say you think too small ...» («Du sagst mir, ich träume zu gross, ich sage dir, du denkst zu klein»).

Reichmuth will 2024 erneut angreifen.
Reichmuth will 2024 erneut angreifen.
Bild: KEYSTONE

Doch zunächst gilt es für Reichmuth, zur Ruhe zu kommen. Pausieren, Abschalten und Auftanken ist dringend auch für den Kopf gefordert. Auf die Ebene eines Normalsterblichen werden in den nächsten zwei Monaten die Prioritäten verlagert. «Familie, Freunde, Ferien und ein kaltes Bier», wie er gegenüber «blue News» festhält. Am Sonntag, 15. August, wird er bei einem Empfang in Grosswangen dieses «Zwischenleben» offiziell einläuten können.

Überfällige Superkompensation zum Menschsein

Für Nationaltrainer Ghitae, der als Athlet vierfacher Olympia-Teilnehmer war (von 1992 bis 2004) und als Freistil-Nationaltrainer zum dritten Mal (2012 mit Rumänien, 2016 in Rio mit den deutschen Frauen) bei Olympia coachte, ist die weitergehende Marschroute klar. Die WM von Anfang Oktober in Oslo wird Reichmuth auslassen. Im Dezember beginne man wieder mit den Grundlagen.

In Oslo wird dagegen Samuel Scherrer antreten. Der zweifache EM-Zweite im nichtolympischen Limit bis 92 kg wird laut Ghitae im kommenden Zyklus ins olympische 97-kg-Limit wechseln. Damit der Sparringspartner von Reichmuth ebenfalls die Olympia-Qualifikation ins Visier nehmen kann.

Für Reichmuth und Scherrer wird die Olympia-Qualifikation in Paris dann schwer genug. Ghitae: «Technisch und taktisch muss man dauerhaft up to date bleiben. Alle kennen einander. Deshalb sind stets neue Varianten in der Kampfführung gefragt. Denn Ringen ist ein hochkomplexer Sport. Er vereint Kraft, Schnelligkeit, Kondition und Explosivität.»