Trampolin-Effekt und Formel-1-Schuhe Die Geheimnisse hinter den Fabelrekorden von Tokio

Luca Betschart

4.8.2021

Der Norweger Karsten Warholm zählt zu den ganz grossen Figuren der Olympischen Spiele in Tokio.
Der Norweger Karsten Warholm zählt zu den ganz grossen Figuren der Olympischen Spiele in Tokio.
Bild: Keystone

Die Leichtathleten laufen an den Olympischen Spielen in Japan zur Höchstform auf und brechen Rekord um Rekord. Bei aller Euphorie werfen die überragenden Leistungen auch Fragen auf.

L. Betschart

4.8.2021

Besonders auffallend sind die Fabelzeiten auf der Laufbahn im Olympia-Stadion. In den Sprint-Disziplinen gibt es eine regelrechte Rekordflut. Karsten Warholm bleibt über die 400 Meter Hürden als erster Athlet überhaupt unter 46 Sekunden, die 9,8 Sekunden über 100 Meter von Lamont Marcell Jacobs bedeuten Europarekord und Sydney McLaughlin pulverisiert den bisherigen eigenen Weltrekord über 400 m Hürden um 34 Hundertstel. 



Die zahlreichen herausragenden Leistungen werfen angesichts ihrer Dimensionen die Frage auf, wie so etwas überhaupt möglich ist. Vor allem zwei Aspekte sollen den Athletinnen und Athleten in Tokio aber in die Karten spielen: Die Unterlage im olympischen Stadion sowie ein neuer Wunderschuh.

Was macht die Unterlage in Tokio so aussergewöhnlich?

Die Oberfläche der Laufbahn im olympischen Stadion besteht aus dreidimensionalen Gummikörnchen. Gemäss Entwickler Andrea Vallauri, der mit seiner italienischen Firma drei Jahre lang an der Umsetzung tüftelte, ermögliche die Unterlage eine Stossdämpfung und federe die Energie zudem zurück, ähnlich wie ein Trampolin.

«Wir hatten eine spezielle Ambition, mit etwas Neuem hierher zu kommen», sagt Vallauri der New York Times und spricht davon, dass die eineinhalb Millionen Dollar teure Bahn den Athleten in Tokio einen Vorteil gewähre. Gemäss dem Italiener mache sie gar bis zu zwei Prozent schneller. Unfair sei das aber nicht, wie Vallauri mit einem Vergleich zur Formel 1 klar macht: «Wenn alle Autos denselben Gummi haben, dann ist die Fairness gegeben».

Was sagen Athleten und Athletinnen dazu?

Sydney McLaughlin, die in Japan über 400 m Hürden einen sensationellen neuen Weltrekord aufstellt, bestätigt Vallauris Aussagen: «Man spürt die Federung richtig. Manche Bahnen absorbieren einfach den Aufprall und die Bewegung. Diese hier regeneriert sie und gibt sie zurück», so die Amerikanerin. Auch die Schweizerin Mujinga Kambundji zeigt sich begeistert: «Sie ist sehr schnell. Mit wenig Wind oder sogar mit Gegenwind sind extrem schnelle Zeiten möglich. Die Bahn ist super.»

Was steckt hinter dem neuen Wunderschuh?

Die Rede ist vom Formel-1-Schuh für Sprinter! Wohl auch, weil Puma das Modell, das beispielsweise Karsten Warholm an den Füssen trägt, zusammen mit Renningenieuren des Formel-1-Teams Mercedes entworfen hat. Die Schuhfabrikanten entwickelten über die letzten Jahre Schuhmodelle mit reaktiven Schaumstoffen und einer Karbonplatte in der Sohle, die eine Rückfederung und damit einen Vorwärtsantrieb auslösen. Bei jedem Schritt gibt der Schuh dem Läufer Energie mit auf den Weg, zudem werden Schläge absorbiert. Unter anderen liefen auch Sydney McLaughlin und Karten Warholm mit dem neuen Hightech-Schuhwerk zu ihren Rekorden.

Ausgerechnet Warholm allerdings sieht die neuste Entwicklung mit Bedenken: «Auf der Mitteldistanz kann ich es verstehen, wegen der Dämpfung. Wenn man eine Dämpfung will, kann man eine Matratze unterlegen. Aber wenn man ein Trampolin drunterlegt, finde ich das Blödsinn. Und ich denke, das nimmt unserem Sport die Glaubwürdigkeit», so der Norweger im «Guardian».

Ist die Fairness gegeben?

Nachdenklich stimmt zudem, dass offenbar nicht alle Athleten in gleichem Mass von den neuen Treffern profitieren. «Ich schwanke. Alle anderen werden schneller mit diesen Schuhen, Mujinga ist gleich schnell wie mit den alten Schuhen», merkt beispielsweise Kambundjis Trainer Adrian Rothenbühler im Interview mit SRF an. Man müsse noch herausfinden, wieso die Schweizerin bisher nicht von der neuen Technologie profitiert.

Kein Fan des neuen Wunderschuhs ist Professor Yannis Pitsiladis, Mitglied der medizinischen und wissenschaftlichen Kommission beim IOC. Der Grieche ist davon überzeugt, die neuen Treter hätten ihre Besitzer gegenüber der Konkurrenz bevorteilt und fordert die Abschaffung dieses «technologischen Dopings». Und Usain Bolt, nach wie vor der Weltrekordhalter über 100 m, macht klar: «Ich wäre mit den Schuhen ohne Zweifel unter 9,5 Sekunden gelaufen.»

Andere Top-Athleten wollen den Wunderschuhen dagegen nicht zu viel Bedeutung zu schreiben. «Die Leute sagen, es liegt an der Strecke, den Schuhen und den Bedingungen, die wirklich gut waren. Aber ich könnte andere Schuhe tragen und trotzdem schnell laufen», beteuert Rai Benjamin, der als Silbermedaillengewinner über 400 m Hürden ebenfalls deutlich unter der alten Rekordmarke blieb. Und Elaine Thompson-Herah, die sich mit hervorragenden Zeiten über 100 und 200 m zur Doppel-Olympiasiegerin kürt, erklärt ihre Leisungen mit dem harten Training: «Die Bahn oder die Schuhe spielen keine Rolle.»