Bernhard Russi verabschiedet sich an den Olympischen Spiele in Peking als prägender Pisten-Architekt in Diensten der FIS. Der Urner gewährt Einblicke in die Arbeit bei seinem letzten Werk.
Mit Russis Abgang geht im alpinen Skirennsport eine Ära zu Ende, die vor über 40 Jahren mit einer Anregung an den damaligen FIS-Präsidenten Marc Hodler begonnen hatte. Der heute 73-jährige Andermatter tat sein Unverständnis über Abfahrtspisten kund, die seiner Ansicht nach wie Autobahnen konzipiert waren. Die Kritik zeigte Wirkung. Russi fand Gehör, Hodler bat ihn um einen eigenen Vorschlag. Der Dialog war der Anfang einer Erfolgsgeschichte und die Basis für einen Job, den es zuvor nicht gegeben hatte.
Ohne Russi ging im Pistenbau fortan fast nichts mehr. Er trug für neun der letzten zehn Abfahrtsstrecken bei Olympischen Spielen die Verantwortung. Die Realisierung von WM-Pisten eingerechnet, war der Olympiasieger und Weltmeister bei mehr als zwei Dutzend Strecken federführend.
Bernhard Russi, es ist der Tag vor dem ersten Abfahrtstraining auf der neuen Olympia-Piste in Yanqing. Nach den vor zwei Jahren ausgefallenen Testwettkämpfen ist es für alle Fahrer Neuland. Kommt da Nervosität auf bei Ihnen?
Extrem nervös bin ich nicht. Wir haben schon vier Testtage hinter uns – zwar nicht mit Weltcup-Fahrern, aber langsam können wir uns vorstellen, wie es rauskommen kann. Trotzdem nimmt es uns natürlich wunder – zum Beispiel, wie die Fahrer reagieren. Es wäre auf jeden Fall nicht gut, wenn mir alle auf die Schulter klopfen würden. Dann wären wir zu viele Kompromisse eingegangen, und das wiederum wäre nicht in unserem Sinn.
Ein mehrjähriges Projekt geht zu Ende. Wann waren Sie das allererste Mal an diesem Berg, dem Xiaohaituo?
Das war im Herbst 2014. Es war eine relativ schwierige Aufgabe. Es ging darum herauszufinden, ob der Berg für Olympische Spiele taugt. Ich reiste deshalb nicht alleine nach China und nahm Günter Hujara (den ehemaligen FIS-Renndirektor, Red) mit. Wir gingen miteinander auf den Berg, hatten aber abgemacht, dass wir den ganzen Tag nicht miteinander reden. Am Abend notierte jeder seine Eindrücke und die eigene Qualifikation der Piste. Die Einschätzungen waren ziemlich deckungsgleich. Wir waren uns einig, dass der Berg Potenzial hat.
Wie verlief die Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen hier in Yanqing und den Arbeitern vor Ort?
Wir mussten einige Hürden überspringen. Trotz Schwierigkeiten betreffend Kommunikation schenkte ich den Leuten volles Vertrauen. Die Zusammenarbeit war spannend und sehr gut. Das kommt vielleicht auch daher, dass sich das Streben nach Perfektion wie ein roter Faden durch die Organisation dieser Spiele zieht. Sie führten aus, was wir auch immer verlangten. Beeindruckend ist auch, dass noch immer die gleichen Leute dabei sind wie bei meinem ersten Besuch. Diese Kontinuität ist der Garant für den Erfolg.
Was waren die grössten Herausforderungen?
Um die Piste an einigen Stellen breiter zu machen, waren Verschiebungen von grossen Erdmassen nötig. Die grösste Herausforderung war, einen neuen Standort für das abgetragene Material zu finden. In der Theorie wäre es einfach, dieses Material etwa zum Bau einer anderen Piste zu verwenden. Doch es galt zu bedenken, dass es in dem Gebiet nicht nur den trockenen Winter, sondern auch den Sommer mit teilweise vielen Niederschlägen gibt. Deshalb konnten nicht einfach Täler aufgefüllt werden. Da muss auch verbaut werden. Und das war von der technischen Seite her die grösste Herausforderung.
Ihr Credo lautet, die Grenzen auszuloten. Ist das in Yanqing gelungen?
Was den Bau der Piste anbelangt, ist das uns gelungen. Wir haben uns unter anderem in ein extrem schmales Seitental gewagt, den sogenannten Canyon im letzten Drittel der Strecke. Damit hat die Piste einen Charakter bekommen. Der Bau einer Strecke macht diesbezüglich 70 Prozent aus, die anderen 30 Prozent werden durch die Feinabstimmung, die Kosmetik mit dem Schnee, die Kurssetzung und die Sprünge erzeugt.
Waren beim Bau Kompromisse Ihrerseits nötig?
Ja, Kompromisse im Sinne der Vernunft, etwa dann, wenn du merkst, dass der Aufwand und der Eingriff ins Gebiet zu gross sind.
Die Aufgabe als Pistenbauer erfordert einiges an Präsenzzeit vor Ort. Wie oft waren Sie dafür in China?
Diese Frage wird mir sehr oft gestellt. Ich habe mir aber nicht die Mühe gemacht, alle meine Besuche zu zählen. Ungefähr dürfte ich 30-mal in China gewesen sein.
Sie haben eine hohe Meinung vom neuen Ski-Ressort und haben von einem der besten Rennberge weltweit gesprochen. Wie kommen Sie zu dieser Einschätzung?
Ich sehe die neue Piste in Bezug auf Attraktivität und Schwierigkeitsgrad im oberen Drittel der aktuellen Weltcup-Strecken. Da gibt es nicht viel Besseres. Kitzbühel und das Lauberhorn natürlich, dazu Beaver Creek und Sotschi.
Wie würden Sie die neue Strecke in drei Worten zusammengefasst charakterisieren?
Sehr abwechslungsreich, rockig und schnell.
Die Strecke liegt in einem Naturschutzgebiet. Naturschnee gibt es praktisch keinen. Das bringt selbstredend Kritik mit sich. Wie gehen Sie damit um?
Zu Punkt eins: Die Strecke liegt nicht in einem Naturschutzgebiet. Es ist Naturgebiet, klar. Dahinter befindet sich militärisches Schutzgebiet. Es geht wie immer um die Grundsatzfrage, ob es in einer Region den Skisport und den Tourismus braucht. Es geht auch um Kompromiss. Es gibt Täler und Regionen, die vom Tourismus abhängig sind, die sonst nicht existieren können. Zum Kunstschnee: Sagen Sie mir ein Skigebiet, das ohne ihn auskommt. Dazu ist die Bezeichnung falsch. Es geht ja um Luft und Kälte. Da ist nichts Künstliches. Wir sind hier in Yanqing in einer Region, in dem die Winter sehr trocken und niederschlagsarm sind, die Temperaturen in dieser Jahreszeit aber zwischen minus 15 und minus 20 Grad liegen. Für den alpinen Rennsport gibt es keine besseren Bedingungen als hier. Dazu ist die Meinung falsch, dass man hier machen kann, was man will. Auch in China haben sie sich, was etwa die Umwelt betrifft, an Vorgaben zu halten.
Wie sieht es in Yanqing in Sachen Nachhaltigkeit aus?
Ich sehe hier für den Tourismus grosses Potenzial. Es ist ein sehr attraktives Gebiet mit einem wunderbaren Aussichtspunkt.
Das letzte Werk von Pistenbauer Bernhard Russi ist vollendet. Was bleibt für Sie persönlich zurück nach über 40 Jahren mit dieser Aufgabe?
Vor allem bleibt Dankbarkeit zurück dafür, dass ich den Skirennsport mitgestalten durfte. Mir kamen selbstverständlich die Ausbildung zum Hochbauzeichner und die als Aktiver gesammelten Erfahrungen zugute. Es ist eine wunderschöne Arbeit, die für mich immer am Anfang am spannendsten war, wenn ich allein mit dem Berg war und versuchte herauszufinden, welches sein Charakter war. Diese Erkenntnisse liess ich in meine Entscheide einfliessen.
Didier Défago war erstmals Ihr Assistent und wird Ihr Nachfolger. Was geben Sie ihm mit auf den Weg?
Ratschläge? Er sah von Beginn an, dass wir die gleiche Philosophie haben. Ich wiederum merkte schnell, dass diese Aufgabe auf ihn zugeschnitten ist. Er ist ein geerdeter Mensch – und auch einer, der für die Abfahrt kämpft, der den wilden Stil beibehalten will und der bemüht ist, dafür zu sorgen, dass der Fahrer auch Verantwortung übernehmen muss. Didier ist aber auch eine andere Generation. Er ist noch näher dran als ich. Die letzten zwei Tage ist er die neue Strecke noch selber runtergefahren.