Jürg Stahl äussert sich wenige Tage vor dem Beginn der Sommerspiele zu Olympia und zum Umgang mit der Pandemie. Das IOC reagiere besonnener als die UEFA bei der EM, so der Präsident von Swiss Olympic.
Jürg Stahl, Japan ist, wenn man an vergangene Olympische Spiele denkt, kein schlechtes Pflaster für die Schweiz.
Oh ja. Ich war zwar erst vierjährig, als wir 1972 die goldenen Tage von Sapporo erlebten. Aber das war irgendwie prägend für die Generation Russi, zu der ich mich auch zähle. Von den ersten Spielen in Tokio acht Jahre zuvor kommt mir immer ein Zeitungsbericht in den Sinn, den ich erst kürzlich wieder in den Händen hielt. Der Flug der Dressur-Equipe dauerte damals mit fünf Zwischenlandungen 60 Stunden. Es war schon damals ein enormer Aufwand, aber er lohnte sich (die Dressurreiter gewannen Silber mit der Mannschaft – Red.). Wenn ich auf diese beiden Spiele zurückblicke, dann kann ich sagen 'Japan liegt uns'. Die Japaner sind uns generell ziemlich nahe, technologisch, puncto Innovation, oder auch menschlich mit ihrer gewissen Zurückhaltung. Die Vorzeichen stehen also gut.
Was erwarten Sie konkret von der Schweizer Delegation?
Die grosse Hoffnung ist, dass alle wieder gesund nach Hause kommen, aber auch, dass wir viele Medaillen gewinnen, die glänzen und nachhaltig sind. Der Sport wurde wegen der Corona-Pandemie durchgeschüttelt, in der Schweiz auch wegen ethischer Fragen. Deshalb ist es wichtig, dass wir die Antworten jetzt auf dem Wettkampfplatz geben können, den vielen Fans und den Familien, die daheimbleiben müssen, etwas zurückgeben können und die elektrisierende Wirkung von Olympia bis in die Stuben daheim wirkt.
Und sportlich?
Wir haben sicher gute Voraussetzungen, die ausgezeichneten Spiele von Rio zu egalisieren. Vor fünf Jahren gewannen wir sieben Medaillen in sechs Sportarten. Diese Breite haben wir auch in Tokio. Wir haben in fast allen Sportarten mit Schweizer Beteiligung mindestens eine Medaillenhoffnung. Die Schweizer Sportverbände und ihre Vereine machen eine ausgezeichnete Arbeit. Das bestätigt auch der kürzlich veröffentlichte Bericht Leistungssport Schweiz. Das Zusammenspiel von Breiten-, Nachwuchs- und Spitzensport ist das Wichtigste; nur in diesem 'Dreieck' ist Erfolg möglich.
Wie froh ist man als Präsident von Swiss Olympic, dass es nach den schwierigen letzten Monaten nun wieder um Sport geht, auch wenn die Pandemie in Tokio selbstverständlich nicht ausgeblendet werden kann?
Nach der Schockstarre zu Beginn der Pandemie, den ersten Lockerungen im letzten Sommer und dem Rückschlag im Herbst hat der Leistungssport nicht nur in der Schweiz gut reagiert. Es gab relativ schnell wieder sichere und sportlich faire Meisterschaften und Titelkämpfe. Das machte die Athleten zuversichtlich, und deshalb bin ich vor allem für sie froh, können sie nun zu den Spielen antreten.
Die Mehrheit der japanischen Bevölkerung ist gemäss Umfragen dagegen, die Spiele zum jetzigen Zeitpunkt durchzuführen. Ist es richtig, die Spiele dennoch abzuhalten?
Ja, es ist richtig. Die Verschiebung ist ein gangbarer Weg und für alle Involvierten wesentlich besser als eine Absage.
Weshalb?
Wenn man acht Jahre keine Spiele hätte, würde der Sport viel verlieren. Wir haben seine Bedeutung gerade im letzten Jahr gesehen. Ich habe grosses Verständnis für jeden Japaner, der Angst hat und den Spielen skeptisch gegenübersteht. Aber das IOC reagiert besonnen, besonnener wohl als etwa die UEFA mit der Fussball-EM in Europa, bei der man vermutlich überbordet hat mit all den Reisen und den vollen Stadien. Von 0 auf 100 funktioniert nicht – wichtig ist das stufenweise Herangehen zur Normalität. Unsere Athleten sind sehr achtsam, aber auch das ganze Umfeld ist sich der Verantwortung bewusst.
Der Sport rückte in den letzten Monaten politisch und gesellschaftlich vermehrt in den Fokus. Wie nachhaltig ist das?
Wenn wir die Weichen richtig stellen, hat der Sport ein grosses Potenzial, diese oft betonte Nachhaltigkeit zu erreichen. Es gibt zwei Aspekte. Einerseits ist das Bedürfnis nach Bewegung zentral für die Leute. Andererseits ist da die emotionale Komponente. Sport ist mehr als Bewegung. Der Sportverein etwa als wichtiges Element in unserer Gesellschaft gewann in dem Moment an Bedeutung, als er während der Pandemie plötzlich nicht mehr da war. Diese Erkenntnisse gilt es mitzunehmen.
Auf den Herbst hin soll im Sport weiter gelockert werden. Nun steigen die Zahlen wieder. Könnte dem Sport ein neuer Rückschlag drohen?
Ich denke nicht. Wir können ziemlich erhärtet sagen, dass der Sport bereits bei den Lockerungen im Frühsommer des letzten Jahres nicht ein Treiber der zweiten Welle war. Der Sportler ist sich gewöhnt, Regeln zu akzeptieren. Deshalb konnte er gut umgehen mit den Vorgaben. Es hat nicht geklappt, wenn es in Feierlichkeiten ausartete und plötzlich alle Dämme brachen. Im normalen Trainings- und Wettkampfbetrieb dagegen war es kein Problem. Das gibt uns die Kraft zu sagen, dass wir die Leute bewegen wollen und es deshalb mit Öffnungen versuchen müssen. Jeder muss aber weiterhin seine Eigenverantwortung wahrnehmen.
Der Sport als Vorbild also?
Der Sport hat die Fähigkeit, Brücken in der Gesellschaft zu bauen. Es kommt mir nichts Besseres in den Sinn als der Sport, um auch in schwierigen Zeiten mal abzuschalten und sich über etwas freuen zu können. Wir sehnen uns nach der entbehrungsreichen Zeit nach der Lebensfreude, die der Sport auslösen kann.
Der Bund hat viele Mittel gesprochen im letzten Jahr. Ist der Sport aus wirtschaftlicher Sicht bereits über den Berg?
Nein, soweit würde ich noch nicht gehen. Wir sind immer noch in einem ziemlich steilen Teil der Alpe d'Huez. Wir sehen aber irgendwo weit vorne das Ziel. Die Voraussetzungen sind da, dass wir gut aus der Krise kommen. Für Swiss Olympic ist es aber weiterhin wichtig, dass wir die Mittel, die der Bund uns anvertraut hat, fair weitergeben. Das ist uns bisher gelungen. Persönlich glaube ich, dass es, nicht nur im Sport, zusätzliche Mittel für eine Transformationsphase benötigt. Bei künftigen Krisen sollten wir selbst mehr beitragen können und weniger auf den Staat angewiesen sein.
Was will der Sport denn konkret gegen Krisen tun?
Wir haben zusammen mit der Eidgenössischen Hochschule für Sport das Projekt 'Sportwirtschaft 5.0' lanciert. Es gibt verbandsübergreifende Themen wie Ethik, die gesellschaftliche Bedeutung oder den gesundheitlichen und sozialen Aspekt. Da müssen wir unsere Kräfte bündeln.
Wie bei der Meldestelle für Ethikfragen?
Genau. In einem kleinen Land wie der Schweiz ist noch wichtiger, Ressourcen richtig einzusetzen und Synergien zu nutzen, zumal nicht jede Sportart gleich stark betroffen ist von der gesamten Integritäts-Thematik. Es geht uns aber alle an. Wichtig zu erwähnen ist, dass jeder im Sport Involvierte puncto Integrität eine positive Grundhaltung zu diesem Thema benötigt. Die Meldestelle allein genügt nicht. Wir müssen parallel aufklären, begleiten, beraten und ausbilden.