Er war seit 2006 an allen Olympischen Spielen als Journalist dabei, doch in Tokio fehlt er – und ist froh darüber. Marcel Allemann (51), Olympia-Experte von «blue Sport» befürchtet, dass die Spiele ihre Strahlkraft verlieren, freut sich aber trotzdem auf hochklassigen Sport.
Marcel, wann warst du letztmals an Olympischen Spielen nicht selbst vor Ort?
Das war 2004 in Athen, seither habe ich nicht mehr gefehlt, sowohl an Sommer- wie auch Winterspielen.
Bist du traurig darüber, in Tokio nicht dabei zu sein?
Jein. Einerseits waren Olympische Spiele für mich stets der absolute Höhepunkt, so viele einzigartige Geschichten schreibt sonst kein Sportanlass. Es wird daher vermutlich schon ein seltsames Gefühl sein, wenn die Wettkämpfe am Wochenende losgehen und ich dabei in meinem Wohnzimmer oder im Büro statt im Stadion oder Medienzentrum sitze. Andererseits: Diese Olympischen Spiele werden keine Olympischen Spiele sein, wie ich sie kennenlernen durfte. Da bin ich vor dem Fernseher wesentlich besser aufgehoben.
Weshalb glaubst du das?
Während einer Pandemie ein solches Sportfest abzuhalten, an dem die ganze Welt zusammenkommt oder zusammenkommen sollte, ist meiner Meinung nach einfach keine gute Idee, sondern reine Zwängerei. Die wirtschaftlichen Überlegungen haben gegen den gesunden Menschenverstand gesiegt. So wie die Sommerspiele jetzt zur Austragung kommen, werden sie fast alles von ihrer einzigartigen Strahlkraft verlieren.
«Das IOC bewegt sich auf ganz dünnem Eis»
Ohne Zuschauer in teilweise grandiosen Stadien, ohne vernünftige soziale Kontakte für die Athleten untereinander, stattdessen mit Abstandsregeln und Gesichtern, die nach vollbrachter Leistung mit ihren Emotionen jeweils direkt wieder hinter der Maske verschwinden müssen. Das wird vermutlich sehr trostlos, das sind für mich keine richtigen Olympischen Spiele, das entspricht nicht mehr dem olympischen Geist.
Hätte man die Spiele absagen sollen?
So gesehen ja. Auch ein Grossteil der Bevölkerung in Japan ist gegen die Spiele zu diesem heiklen Zeitpunkt mit steigenden Infektionszahlen im Land. Die Voraussetzungen sind, wenn man alles zusammenrechnet, miserabel. Das IOC, das Organisationskomitee und die japanische Regierung bewegen sich auf ganz dünnem Eis. Wenn das schiefgeht, dann wäre es für die Verantwortlichen wohl besser, sie würden von Tokio aus direkt auf eine einsame Insel fliegen und sich nicht mehr in Japan blicken lassen.
«Wer sich am wenigsten ablenken lässt, hat die grössten Erfolgsaussichten»
Aber ich kann gleichzeitig auch verstehen, dass es für die Sportler und ihre Karriere sehr wichtig ist, Olympische Spiele trotz aller Widrigkeiten zu haben. Gerade für Athleten aus Randsportarten ist Olympia existentiell. Und da die Sportler für mich stets im Zentrum stehen, kann ich trotz allem damit leben, dass die Spiele stattfinden. Ich hoffe einfach, sie können mit den speziellen Bedingungen umgehen und die Spiele trotzdem geniessen, obwohl kürzlich ein Athlet vor Ort von einem ‹Gefängnis mit grossem Hofgang› gesprochen hat.
Was erwartest du sonst für Olympische Spiele?
Spiele der Ungewissheit und Überraschungen. Es ist zu befürchten, dass es zahlreiche Corona-Fälle und Quarantäne-Verordnungen geben wird und sich gewisse Startfelder dadurch lichten. Die mentale Herausforderung wird für die Sportler noch grösser sein als ohnehin schon an Olympischen Spielen. Wer mit den speziellen Verhältnissen am besten umgehen kann und sich von Nebenschauplätzen am wenigsten ablenken lässt, hat die grössten Erfolgsaussichten.
Du als Olympia-Experte kannst uns sicher auch sagen, wie viele Medaillen die Schweiz in Tokio holen wird?
Diese Anzahl zu tippen hat natürlich Tradition bei mir als Olympia-Freak. Aber ganz ehrlich: Ich tat mich aber noch nie so schwer wie in diesem Jahr. Wie bereits angesprochen, rechne ich mit einigen Überraschungen. Durch Corona und seine Folgen waren die vorolympischen Wettkämpfe in vielen Sportarten weniger übersichtlich als üblich und auch immer wieder von Absenzen geprägt. So ist es schwieriger geworden, den Formstand vieler Athleten und die Konkurrenz effektiv einzuschätzen.
«Unsere Athleten sind gut auf die schwierigen Bedingungen eingestellt»
Aber ich bin vom Naturell her ein Optimist und sage mal, wir holen zehn Medaillen. Kandidaten dafür gibt es mehr als genug und ich denke, unsere Athleten sind auch dank der Arbeit von Sportpsychologe Jörg Wetzel sehr gut auf die schwierigen Bedingungen eingestellt. Ich wünsche mir, dass wir erstmals seit 1988 wieder eine Medaille in der Leichtathletik und erstmals seit 1984 wieder eine Medaille im Schwimmen holen und glaube auch daran, dass dies nicht nur Wunschdenken bleibt.
Und wer soll dieses Kunststück schaffen?
Im Schwimmen Jérémy Desplanches über 200 m Lagen, denn er ist ein absoluter Perfektionist und in der Leichtathletik traue ich unserer 4x100-m-Frauenstaffel an einem perfekten Tag eine Sensation mit der Bronzemedaille zu.
Demnach freust du dich trotz allem auf die Olympischen Spiele?
Ja klar. Ich bin zwar sehr kritisch gegenüber diesen Olympischen Spielen in Tokio. Aber ich bin auch ein Sportfan und freue mich enorm auf die Wettkämpfe. Um ehrlich zu sein, ich kann es trotz der trostlosen Vorzeichen kaum erwarten, am Samstagmorgen den Fernseher einzuschalten. Ich hoffe einfach, dass es fair sein wird und keine Wettkämpfe wegen der Corona-Lage und deren Folgen zur Farce werden.
Was war bislang dein persönliches Olympia-Highlight aus Schweizer Sicht, bei dem du live dabei warst?
Sich für nur einen Moment entscheiden zu müssen, ist fast schon brutal. Aber wenn ich muss, dann nehme ich das Olympia-Gold 2008 in Peking von «Fedrinka». Was damals auf dem Tennis-Court im Doppel zusammenwuchs, nachdem Roger Federer und Stan Wawrinka im Einzel zunächst Enttäuschungen zu verarbeiten hatten, welche Emotionen sie miteinander teilten und wie sie sich bei ihrem Sturm zu Gold gegenseitig abfeierten – da waren enorm viele Hühnerhaut-Momente dabei.