Der Freistilringer Stefan Reichmuth tritt am Mittwoch mit grossen Ambitionen in der Klasse bis 86 kg an. Um seine Ziele zu erreichen, nimmt der 26-jährige Luzerner grosse Entbehrungen auf sich.
Mit der Qualifikation für die Olympischen Spiele erfüllt sich Stefan «Stifi» Reichmuth wie die meisten Athleten einen Kindheitstraum. Doch mit dem Motto «Dabei sein ist alles» gibt er sich nicht zufrieden. «Wenn man sich qualifiziert, dann will man das Bestmögliche machen. Eine Medaille ist aus meiner Sicht realistisch.»
Positiv und gross denken, das ist Reichmuths Lebenseinstellung. Auch deshalb hat es ihm die USA angetan, wo er 2017 einmal für drei Monate an einem College ringen durfte. Neben Roger Federer nennt er den Basketballer Michael Jordan und den Footballer Tom Brady als seine Vorbilder. «All diese Grössen imponieren mir. Sie haben einen unbändigen Willen, immer weitergemacht und vieles erreicht.»
Reichmuth hat in Tokio Grosses vor, auch wenn rund ein Dutzend des 16 Athleten umfassenden Feldes sich Chancen auf Edelmetall ausrechnen darf. «Wenn ich am Tag X bereit bin und alles abrufen kann, was ich gelernt habe, dann ist vieles möglich.» Dass er das kann, wenn es zählt, bewies er an der WM 2019 in Nursultan, als er Dritter wurde. In Tokio erhält Reichmuth im Fall einer frühen Niederlage eine zweite Chance, zumindest um Bronze zu kämpfen, sollte sein Bezwinger den Final erreichen.
Ein verlässliches Team
Den letzten Schliff für Tokio hatte sich Reichmuth in Andermatt geholt, wo er zehn Tage mit seinem Klubkollegen Samuel Scherrer sowie den von ihm eingeladenen EM-Zweiten Piotr Janulow aus Moldawien und Saif Alekma aus Frankreich trainierte. Scherrer, der auch schon 2019 in Nursultan dabei war, begleitete ihn auch nach Tokio, auch wenn es in den Tagen vor dem Wettkampf praktisch nur noch um die Akklimatisierung geht. «Im Training macht man nicht mehr viel. Man kann nichts mehr gewinnen, höchstens die Form noch vernichten.»
Reichmuth, dessen Götti Rolf Scherrer an den Spielen 2000 in Sydney und 2004 in Athen teilnahm, schwärmt nach den ersten Eindrücken im olympischen Dorf von der guten Organisation, was die Vorfreude auf den Wettkampf noch grösser werden lässt. Nur dass sein engstes Umfeld nicht dabei sein kann, ärgert ihn. «Es hat mich jahrelang unterstützt und die Olympia-Qualifikation ebenfalls geschafft.»
Rund 15 Leute, die meisten gute Freunde oder Familienmitglieder, helfen ihm, damit er seinen Sport professionell ausüben kann. Dazu gehören ein Manager, ein Buchhalter, verschiedene Trainer oder der Masseur. «Sie machen es alle aus Leidenschaft», sagt Reichmuth. Da er selber nicht viel verdiene, sei es schwierig, diese zu entlöhnen.
Leben auf kleinem Fuss
Nach der Lehre als Zweirad-Mechaniker reduzierte Reichmuth sein Arbeitspensum immer mehr und mehr. Seit Jahren konzentriert er sich vollumfänglich auf den Sport und hilft nur noch gelegentlich bei einem guten Freund in dessen Bike-Shop in Willisau mit – zwecks Abwechslung, «damit ich nicht 7 Tage und 24 Stunden ans Ringen denken muss». Dank der Anstellung als Sportsoldat sowie der Unterstützung durch die Schweizer Sporthilfe sowie von Sponsoren und Gönnern kann er sich durchschlagen.
200 bis 250 Tage pro Jahr verbringt Reichmuth im Ausland, fast ausschliesslich in Trainingslagern in Osteuropa, im Kaukasus oder Zentralasien. Um gute Sparringpartner zu haben und sportliche Fortschritte erzielen zu können, sind diese Camps unabdingbar. «Wenn man der Beste werden will, muss man von den Besten lernen.»
Dafür nimmt Reichmuth viel in Kauf. «Das Leben dort kennt nicht die Standards, wie wir sie in der Schweiz vorfinden.» Kalt duschen, schlecht sanierte Zimmer oder (zu) kleine Betten gehören zum Ringer-Alltag. Daran haben sich Reichmuth und seine Kollegen längst gewöhnt. «Wir leben nach dem Motto: Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.»