Gold für Jasmine Flury, Bronze für Corinne Suter. Zwei Freundinnen drücken der WM-Abfahrt in Méribel nach schwierigen, von Zweifeln begleiteten Tagen völlig unerwartet den Stempel auf.
Sofia Goggia natürlich. Oder Ilka Stuhec. Oder vielleicht doch Lara Gut-Behrami? Nichts wars – weder für die derzeit dominierende Abfahrerin aus Italien noch für die wieder erstarkte Slowenin und auch nicht für die Tessinerin, der aus Schweizer Sicht die grössten Chancen auf einen Medaillengewinn eingeräumt worden waren.
Die Hauptdarstellerinnen von Seiten von Swiss-Ski waren Jasmine Flury und Corinne Suter. Zwei, die sich mögen, zwei Freundinnen, für die sich der Traum, gemeinsam auf dem Podium zu stehen, ein zweites Mal erfüllte. Das erste Mal hatten sie das, was sie sich schon lange zuvor als erstrebenswertes Ziel ausbedungen hatten, vor einem guten Jahr geschafft. In Garmisch-Partenkirchen hatte Corinne Suter die Abfahrt vor Jasmine Flury gewonnen.
Wettlauf mit der Zeit
Und nun in der wichtigsten Abfahrt des Winters das: Platz 1 und 3, zwei Medaillengewinne, die wegen des engen Bezugs der beiden Fahrerinnen zueinander schon speziell, wegen deren Vorgeschichten aber noch besonderer, noch unerwarteter sind. Corinne Suters Kampf gegen die Folgen einer Hirnerschütterung nach dem Sturz vor drei Wochen in Cortina d'Ampezzo war bekannt. Jasmine Flurys Wettlauf mit der Zeit weniger. Wegen einer Grippe hatte sie die gesamte WM-Vorbereitung verpasst. Sie war wohl mit ihren Teamkolleginnen ins Ultental im Südtirol ins Trainingslager gefahren, stand aber keinen Tag auf den Ski und hütete stattdessen das Bett.
Zweifel hatten beide durch die letzten Tage begleitet. Jasmine Flury war sich nicht sicher, ob sie für die Rennen in Méribel rechtzeitig wieder gesund wird. «Derart hatte es mich noch nie erwischt, nicht einmal die Zeit mit der Corona-Erkrankung war so schlimm.» Zwei Tage vor der Abfahrt ging es dann gesundheitlich deutlich aufwärts. «Im zweiten Training spürte ich die Energie wieder. Das gab mir Zuversicht. Ich merkte, dass mir der Hang liegt und das Material passt.»
Jasmine Flury war schon einmal ganz oben angelangt. Vor gut fünf Jahren hatte sie in einem Super-G in St. Moritz ihren bisher einzigen Weltcup-Sieg errungen. Es sollte nicht der erhoffte Beginn des Durchbruchs sein. Es folgte Wellental auf Wellental. «Es war ein ständiges Auf und Ab. Verletzungen warfen mich zurück. Doch ich probierte immer dranzubleiben, den Glauben nicht zu verlieren.»
Die schwierigste Phase hatte Jasmine Flury vor ihrem Sieg im Engadin zu meistern. Ein Problem mit der Hüfte machte ihr zu schaffen. Eine ganze Saison hatte sie deswegen verpasst, eine Operation stand im Raum. Auf den Eingriff verzichtete sie schliesslich und liess sich von Physiotherapeuten konservativ behandeln. Die Hüfte blieb ihre körperliche Schwachstelle, eingeschränkt fühlt sie sich aber nicht. Sie hat gelernt, damit umzugehen.
Die unglaubliche Wende
Gar nicht umgehen konnte Corinne Suter mit ihrer, für sie neuen Situation. Sie war überfordert, die Tage nach dem Sturz hatten ihr auf die Moral geschlagen. «Ich war noch nie so tief unten.» Noch am Tag vor der Abfahrt hatten sie und ihr Umfeld keinen Ausweg aus der Sackgasse gefunden. «Ich wusste nicht, was ich machen soll. Nichts hat zusammenpasst. Ich habe mich noch nie so unvorbereitet gefühlt wie vor dieser Abfahrt.» Sie hatte sogar den Startverzicht als Option betrachtet. «Nur fahren, dass ich gefahren bin, das wollte ich nicht. Das bin nicht ich.»
Dann aber die Wende zum Guten – für Corinne Suter ein unglaublicher Prozess in so kurzer Zeit. Die Erfahrung soll mitgeholfen haben, auch die Erinnerung an die Erfolge an vorangegangenen Grossveranstaltungen. Abfahrts-Silber und Super-G-Bronze hatte sie an der WM vor vier Jahren in Are gewonnen, Abfahrts-Gold und Super-G-Silber zwei Winter später in Cortina d'Ampezzo, Abfahrts-Gold vor zwölf Monaten an den Olympischen Spielen.
Und nun, als Titelverteidigerin, wieder Abfahrts-Bronze, eine Medaille mit besonderem Stellenwert, gewonnen am Tag, an dem ihre über den Skirennsport hinaus beste Freundin ihren grossen Tag hatte. «Unsere Beziehung ist sehr speziell. Wir haben schon so viel miteinander durchgemacht. Wir sind gemeinsam durch Höhen und Tiefen gegangen. Das schweisst zusammen.»
Das neueste Hoch war für die Freundinnen in den Stunden nach dem Rennen noch nicht richtig fassbar. Corinne Suter sprach von einem irrealen Moment, Jasmine Flury davon, dass sie wohl noch Tage brauchen werde, um das Ganze zu begreifen. «Weltmeisterin. Das tönt noch so unrealistisch.»