Vor 30 Jahren wurde am Lauberhorn ein schwarzes Kapitel geschrieben. Der Österreicher Gernot Reinstadler verlor nach einem fatalen Sturz im Ziel-S sein Leben.
Die Lauberhorn-Abfahrt in Wengen ist legendär. Ein Mythos, der Jahr für Jahr neu inszeniert wird – sofern Petrus dann mitspielt. Die Frage nach dem richtigen Wetter stellte sich heuer gar nicht erst. Die Corona-Pandemie übernahm die Rolle des Spielverderbers. Tristesse statt Skifest im Berner Oberland.
Das dunkelste Kapitel in der 91-jährigen Geschichte der Lauberhornrennen geht jedoch auf das Jahr 1991 zurück. Während im Irak der Krieg tobte, erlebte in Wengen am 18. Januar die «Qualifikationsabfahrt» ihre traurige Premiere im alpinen Skiweltcup.
Das neue Format, bei dem sich nur die 30 Besten für das eigentliche Rennen vom Samstag qualifizieren konnten, war bei den Fahrern höchst umstritten. Es drohte ein Streik und Boykott. Doch der heutige FIS-Präsident Gian Franco Kasper, der damals noch als Generalsekretär im internationalen Skiverband wirkte, konnte Franz Heinzer, Daniel Mahrer, Marc Girardelli und Co. bei einer kurzfristig einberufenen Krisensitzung im Victoria-Lauberhorn Hotel schliesslich beschwichtigen.
Tags darauf, das US-Team war aufgrund der Kriegsgeschehnisse in der Golfregion mittlerweile in seine Heimat zurückbeordert worden, folgte an einem herrlichen Wintertag die Probe aufs Exempel. Die Qualifikationsabfahrt verlief nicht viel anders als ein gewöhnliches Abschlusstraining. Mahrer fuhr vor dem Norweger Atle Skaardal und Heinzer Bestzeit, alle 15 Fahrer aus der ersten Gruppe qualifizierten sich problemlos für das Rennen.
Der fatale Sturz
Dann folgte mit Startnummer 44 Gernot Reinstadler, einer der jungen, talentierten Österreicher. Der Sohn von Traudl Eder, einer ehemaligen Riesenslalom-Spezialistin, war noch keine 21 Jahre alt und galt als grosse Zukunftshoffnung. Doch die Fahrt über den Hundschopf, den Haneggschuss hinunter und vorbei am Österreicher Loch – es sollte seine letzte bleiben.
Im Ziel-S kam es zum fatalen Sturz. Reinstadler verkantete, geriet in Rücklage, flog mehrere Meter durch die Luft und prallte ungebremst in die Sicherheitsnetze. Dabei blieb der Tiroler mit einer Skispitze derart unglücklich hängen, dass es ihm regelrecht die Beine auseinanderriss. Er erlitt dabei eine Beckenspaltung und schwere Gefässverletzungen im Unterleib. Eine schrecklich lange Blutspur erstreckte sich über den Zielhang.
Reinstadler wurde umgehend mit dem Helikopter ins Spital nach Interlaken geflogen und dort während sechs Stunden operiert. Insgesamt über 40 Liter Blut seiner seltenen Blutgruppe 0 wurden ihm zugeführt – doch die Lage ist aussichtslos. Kurz vor 1 Uhr in der Nacht auf Samstag erhielt der damalige Rennleiter Fredy Fuchs per Telefon die traurige Nachricht vom Tod des Österreichers.
Danach begann für das Wengener Organisationskomitee um ihren OK-Chef Viktor Gertsch eine lange Nacht. Nach heiklen Diskussionen und mehreren Telefonaten fasste das OK in den frühen Morgenstunden den Entschluss, die Rennen vom Wochenende abzusagen. Den Ausschlag gaben letztlich Fuchs' Emotionen, wie im Jubiläumsbuch «Ein Mythos wird 75» zu lesen ist. Dieser konnte sich nicht vorstellen, ein Rennen durchzuführen, wenn die Fahnen auf halbmast gesetzt sind. «Wenn ein Rennen stattfindet, müsst ihr einen neuen Rennleiter suchen», stellte er klar.
Der Entscheid der Absage wurde von der FIS und vom Schweizer Skiverband mitgetragen, der entstandene finanzielle Schaden von der Versicherung gedeckt. Der Schock im Skizirkus sass tief.
Triumph nach Tod seines Freundes
Einer, der mit Reinstadler befreundet war und mit ihm regelmässig das Zimmer teilte, war Stephan Eberharter. Der spätere Olympiasieger und zweifache Gewinner des Gesamtweltcups weilte damals aber nicht in Wengen, sondern in seiner Heimat, wo er sich auf der WM-Piste in Saalbach-Hinterglemm auf den Super-G vorbereitete.
Die Nachricht vom Tod seines Freundes erschütterte Eberharter zutiefst. Trotz der Umstände wurde der Zillertaler in der darauffolgenden Woche Weltmeister im Super-G. Tags darauf reiste er zur Beerdigung seines früheren Zimmerkollegen. Wenige Tage später gewann Eberharter auch noch WM-Gold in der Kombination.
Mehr Sicherheit für die Fahrer
Der tödliche Unfall von Reinstadler entfachte die Diskussionen um die Sicherheitsvorkehrungen im alpinen Skirennsport aufs Neue. Sepp Messner, der damalige Sicherheitsbeauftragte der FIS, konstatierte in einem Interview mit der Zeitung «Sport», die Lauberhornstrecke sei zwar «optimal» gesichert gewesen, trotzdem könne man sich noch viel einfallen lassen, um die Sicherheit der Fahrer zu verbessern.
In den Folgejahren wurde in dieser Hinsicht viel investiert. Unter anderem wurden schnittfeste Abweisplanen entwickelt. Am Lauberhorn wurde zudem die Geländekante am Zielsprung abgetragen, um das Verletzungsrisiko bei Stürzen zu vermindern. Dass ein gewisses Restrisiko bleibt, das war auch Messner bewusst. Den Grund für den fatalen Unfall in Wengen bezeichnete er als «ein Zusammentreffen tragischer Umstände».
Zu einem ähnlichen Schluss kam auch der zuständige Untersuchungsrichter aus Interlaken, der das OK Lauberhorn in allen Punkten entlastete. Und die «Qualifikationsabfahrt»? Das von den Fahrern ungeliebte Format wurde sogleich wieder aus dem Programm gekippt.
Die schmerzhaften Erinnerungen von Mutter Traudl
In einem Interview mit dem «Tagesanzeiger» blickt Gernots Mutter Traudl Reinstadler auf die dunklen Stunden zurück. Den Anruf des österreichischen Abfahrtstrainer, der die traurige Gewissheit brachte, bezeichnet sie heute als unbeschreiblich. «Du hörst die Worte, und dich beschleicht ein Gefühl, als würde dir jemand einen Dolch ins Herz stechen. Die Erinnerung daran lässt sich nicht auslöschen», sagt die heute 79-jährige Tirolerin. Sie habe das Passierte nicht verstehen können.
Die Tatsache, dass die Sicherheit am Lauberhorn in der Folge verbessert wurde, gibt ihr stets Kraft. «Gernots Tod hat das Leben von anderen gerettet», weiss sie. In Wengen erinnert noch heute eine Gedenktafel am Zielhaus an den tragischen Unfall von Gernot Reinstadler vor 30 Jahren.
Von der Anteilnahme der Wengener zeigt sich Traudl Reinstadler noch heute gerührt. Der damalige Rennleiter Fredy Fuchs und der mittlerweile verstorbene OK-Präsident Viktor Gertsch seien mehrmals nach Österreich zur trauernden Familie gereist. «Beide erzählten, dass sie seit Gernots Tod Albträume gehabt hätten. Immer und immer wieder», so Reinstadler. Sie hofft nach wie vor auf ein Wiedersehen: «Nicht mehr auf der Piste. Aber vielleicht auf einer schneeweissen Wolke.»
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