Mit der Macht der Gewohnheit YB ist Meister – doch ist dieser Titel überhaupt noch genug?

sda / mar

1.5.2023 - 07:27

YB – Luzern 5:1

YB – Luzern 5:1

Credit Suisse Super League, 31. Runde, Saison 22/23

30.04.2023

YB ist zum fünften Mal in den letzten sechs Jahren Schweizer Meister. Nationale Erfolge sind im ruhigen Umfeld von Bern zur Gewohnheit geworden. So sehr, dass Gewinnen nicht mehr reicht, um alle restlos zufriedenzustellen.

Keystone-SDA, sda / mar

Die Young Boys sind Schweizer Meister, zum 16. Mal in ihrer Vereinsgeschichte. Nach einem Jahr Unterbruch ist der goldene Pokal zurück in der Hauptstadt, wo er nun zum fünften Mal in den letzten sechs Jahren zur Schau gestellt werden kann.

Der Titelgewinn der Berner ist in der Fussballschweiz nicht viel mehr als eine Vollzugsmeldung. Als Favorit in die Saison gestartet, kristallisierte sich spätestens nach der WM-Pause immer deutlicher heraus, dass YB dieser Rolle auch würde gerecht werden können. Zehn Punkte betrug der Vorsprung, als sich die Teams in die verlängerte Winterpause verabschiedeten. Nach nun 31 Meisterschaftspartien liegen die Berner entscheidende 18 Zähler voraus.

So feiern die YB-Spieler ihren Titel mit den Fans

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30.04.2023

Meisterliches Sturmduo

Die Mannschaft von Raphael Wicky bewegte sich einmal mehr in eigenen Sphären. Anders als in den drei Jahren unter Gerardo Seoane (2018–2021), als die Young Boys zahlreiche Rekorde aufstellten und die Konkurrenz klar dominierten, agierten die Berner diesmal nicht gleich souverän, profitierten auch davon, dass sich die restlichen Teams der Super League immer wieder gegenseitig Punkte abnahmen. Und der vermeintlich stärkste Widersacher aus Basel schwächte sich mit bisweilen fragwürdiger Transferpolitik, Umstrukturierungen und Sparmassnahmen, die intern zu Unruhen führten, selbst, sodass es nie stark ins Gewicht fiel, wenn YB mal nicht drei Punkte einfuhr, sondern nur einen – oder gar keinen.

Als am 1. April der vermeintliche Spitzenkampf gegen Servette aus Berner Sicht 1:2 endete und YB die letzte von insgesamt nur zwei Niederlagen in der Liga einstecken musste, brach im Umfeld der Gelb-Schwarzen keine Panik aus, zumal sie immer noch 15 und eine Woche später schon wieder 17 Punkte voraus waren.

National kannten die Young Boys keine Gegner. Sie erzielten die meisten Treffer und erhielten die wenigsten, und mit Cedric Itten und Jean-Pierre Nsame vereinen sie das mit Abstand gefährlichste Sturmduo. Nur der FC Lugano kann das dritte Double der Vereinsgeschichte (nach 1958 und 2020) mit einem Überraschungserfolg im Cupfinal am 4. Juni im Wankdorf noch verhindern. Vollkommene Glückseligkeit in Gelb-Schwarz also?

Ein Meister-Trio im Interview: «Aspirin und Optifen sind heute entscheidend»

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30.04.2023

Enttäuschung gegen Anderlecht

Nicht ganz. Denn ein Saisonziel musste man an der Papiermühlestrasse früh begraben. Am 25. August 2022 war's, in der Super League waren gerade einmal fünf Runden gespielt, als die sportliche Führung um Christoph Spycher eine empfindliche Niederlage verkraften musste. Mit 2:3 scheiterten die Berner im Penaltyschiessen am belgischen Rekordmeister Anderlecht in den Playoffs zur Conference League, nachdem sie das 0:1 aus dem Hinspiel durch ein Tor von Meschack Elia wettgemacht hatten. Die letzte von insgesamt drei Hürden in eine europäische Gruppenphase, wie sie von den Klubverantwortlichen fix eingeplant ist, erwies sich als zu hoch.

Es war ein Rückschlag, der die Dinge verkomplizierte. Vorab für Trainer Raphael Wicky, der zwar über ein vorzüglich besetztes Kader verfügte, in dem jede Position mindestens doppelt besetzt ist. Nun fiel aber ein Wettbewerb weg, der geholfen hätte, die Spielzeit möglichst gleichmässig auf möglichst viele Schultern verteilen zu können.

Es war der Moment, in dem erste kritische Stimmen zu vernehmen waren im Umfeld der Berner. Schliesslich hatte man auch mit dem in der Meisterschaft eher glücklosen David Wagner in der Saison zuvor die Qualifikation zur Champions League geschafft und in der Gruppenphase Manchester United bezwungen (2:1) und gegen die Engländer sowie Atalanta Bergamo je ein Unentschieden geholt (1:1, 3:3). Und nun, so der Tenor in den Berner Lauben, scheiterte man bereits in der Qualifikation zur drittklassigen Conference League.

Sprachliche Nuancen zum Selbstschutz

Auch Spycher und Sportchef-Lehrling Steve von Bergen sahen sich Kritik ausgesetzt. Im Sommer hatten sie mit namhaften Zuzügen wie Itten, Kastriot Imeri, Kevin Rüegg und Filip Ugrinic die Mannschaft darauf ausgerichtet, einer Dreifachbelastung standhalten zu können. Wie sollten all die potenziellen Stammspieler nun bei Laune gehalten werden, wenn sich nicht alle drei Tage eine Spielgelegenheit bietet? Es ist ein Unruheherd, mit dem die Verantwortlichen offensichtlich gut umgehen konnten.

Er zeigt aber, wie in Bern in den letzten Jahren die Anspruchshaltung gestiegen ist. Mitmischen im Europacup ist nicht mehr ein verdientes Zückerli zum Geniessen, sondern eine erwartete Pflicht, die fix im Budget eingerechnet ist. Und national ist der Meistertitel angesichts der Hegemonie, welche YB seit dem Titelgewinn 2018 eingenommen hat, vielerorts und gerade in Fankreisen mehr Erwartung als Ziel. Wobei der Verein beinahe krampfhaft versucht, ebendiese Erwartungen im Umfeld nicht zu hoch werden zu lassen – wie eine Anekdote zu Saisonbeginn illustriert:

Raphael Wicky empfängt zwei Journalisten von Tamedia zum grossen Interview, und als es im Gespräch um Saisonziele geht und die Bemerkung fällt, dass die Young Boys mit diesem Kader Meister werden müssten, widerspricht der YB-Trainer vehement und schwächt die Aussage insofern ab, dass er mit seinem Team Meister werden wolle, aber sicher nicht müsse. Es sind sprachliche Nuancen, mit denen man sich in Bern vor Enttäuschungen schützen möchte, wie man sie vor 2018 zuhauf hat erleben müssen.

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30.04.2023

Rekordserie geht weiter

Es gab Phasen in dieser Saison, da wurde Raphael Wicky für seine Spielweise kritisiert. Der 45-Jährige setzt konsequent auf ein 4-4-2-System mit Raute. Zu wenig spektakulär, sei das, zu berechenbar, hiess es. Und als sich die Young Boys in einer kleinen Resultatkrise befanden und im Februar und Anfang März dreimal in Folge nicht gewinnen konnten, sahen sich die Kritiker bestätigt. Es sind Diskussionen, wie sie beim FC Basel in dessen Hochphase immer mal wieder aufkamen und unter anderen Urs Fischer nach dem Double-Gewinn 2017 zum Verhängnis wurden.

Gewinnen reicht nicht immer, der gemeine Fussballfan erfolgreicher Teams will auch unterhalten werden. Wicky hat in Bern nun das geschafft, was schon 2017/18 in Basel von ihm erwartet worden war: seinen ersten Titel als Trainer einer Profimannschaft gewonnen. Der Walliser ist der siebte Meistertrainer der Young Boys, der zudem zum erst dritten Double-Trainer werden kann. Es ist ein eindrücklicher Leistungsausweis, der dadurch ausgeschmückt wird, dass YB seit April 2017 nicht mehr zwei Meisterschaftsspiele in Serie verloren hat. Ein einsamer Rekord, der zeigt, wie unaufgeregt, stabil, konstant und erfolgreich in Bern seit Jahren gearbeitet wird. Dass sich das in naher Zukunft ändert, ist nicht abzusehen.