Stefan Küng nimmt erstmals seit 2016 wieder am Giro d'Italia teil. Der Thurgauer hat dabei Grosses vor. Mit einem Sieg am Samstag im Auftaktzeitfahren möchte er das rosafarbene Leadertrikot erobern.
Die Tour de France ist zweifelsohne das bekannteste und bedeutendste Radrennen der Welt. Nicht nur aus Prestige-Gründen können die anderen beiden Grand Tours – der Giro d'Italia und die Vuelta a España – nicht mit der dreiwöchigen Rundfahrt durch Frankreich mithalten. Für Zeitfahr-Spezialisten wie Stefan Küng hat die Italien-Rundfahrt in diesem Jahr jedoch ihren besonderer Reiz.
Gleich in drei von 21 Etappen wird der Sieger in einer Prüfung im Kampf gegen die Uhr ermittelt. Für Küng Anlass genug, um zum ersten Mal seit 2016 den Giro wieder in sein Rennprogramm aufzunehmen, zumal ihm am Samstag die Chance winkt, das erste Leadertrikot der 106. Ausgabe zu erobern. Denn die ersten knapp 20 Kilometer in den Abruzzen werden in einem Zeitfahren absolviert.
Doch die Konkurrenz im Kampf um die Maglia Rosa ist namhaft. Oder wie Küng es ausdrückt: «Die Crème de la Crème der Zeitfahr-Spezialisten ist da.» Primoz Roglic, der Olympiasieger von Tokio, und Remco Evenepoel, der aktuelle Strassen-Weltmeister, gehören sogar zu den ersten Anwärtern auf den Gesamtsieg. Auch Filippo Ganna, der Italiener holte 2020 und 2021 den WM-Titel im Zeitfahren, steht am Start.
Küng fehlt ein grosser Sieg
Als mehrfacher Medaillengewinner muss sich Küng vor dieser Konkurrenz nicht verstecken. Eines haben ihm diese Fahrer aber voraus: Sie alle haben schon einen grossen Sieg eingefahren. Für den Schweizer gibt es am Samstag deshalb nur ein Ziel: Er will gewinnen. «Das ist so. Ich bin sehr positiv gestimmt, auch weil ich die Gewissheit habe, sie alle schon geschlagen zu haben.»
Bei seinem einzigen Zeitfahren in diesem Jahr stand er im Februar an der Algarve-Rundfahrt in Portugal zuoberst auf dem Podest. Ganna folgte auf Rang 3. Das gibt Küng Mumm: «Ich bin sehr zuversichtlich, auch was das neue Setup meiner Zeitfahrmaschine betrifft, an dem wir im Winter gearbeitet haben.»
Schlafen im Höhenzimmer
Die Vorzeichen stimmen Küng positiv, zumal er erneut auf eine starke Klassiker-Saison mit dem 6. Rang an der Flandern-Rundfahrt und Platz 5 bei Paris-Roubaix zurückblicken kann. Danach gönnte sich der junge Familienvater eine Woche Erholung, ehe er sich – noch leicht geschwächt von einer Magen-Darm-Infektion – an die kurze, dafür umso intensivere Vorbereitung auf den Giro machte.
Er entschied sich gegen einen Trainingsblock im fernen Teneriffa und wegen des kühlen und garstigen Wetters auch gegen einen Abstecher auf den Säntis, wo er sich sonst regelmässig auf 2500 Metern Höhe auf seine Saison-Höhepunkte vorbereitet.
Um trotzdem nicht auf den Effekt des Höhentrainings zu verzichten, schlief Küng in seinem Zuhause in Frauenfeld in einem speziell eingerichteten Höhenzimmer. «Mit Generatoren kann ich die Höhenlage simulieren. Dann geht es darum, zwischen den Trainings möglichst viele Stunden in diesem Zimmer zu verbringen.»
Tour-Teilnahme nicht ausgeschlossen
Küng wird am Giro viel Freiheiten geniessen. «Mein Fokus liegt voll auf den beiden Zeitfahren bis zum ersten Ruhetag. Was danach kommt, entscheiden wir ad hoc.» Womöglich steigt der 29-Jährige schon aus dem Giro aus, bevor dieser in der 13. Etappe über den Grossen St. Bernhard nach Crans-Montana in die Schweiz kommt.
Sicher ist, dass Küng im Juni die Tour de Suisse bestreiten wird, die in Einsiedeln ebenfalls mit einem Zeitfahren beginnt. Dass er danach auch an der Frankreich-Rundfahrt teilnimmt, schliesst er aktuell nicht aus.
Lange Schweizer Durststrecke
Den Giro d'Italia bezeichnet Küng als eines seiner Lieblingsrennen. Seine Erinnerungen an die bisherigen zwei Teilnahmen sind aber nicht durchwegs positiv. Im Rückblick bleiben besonders zwei Stürze haften. Der erste hatte für Küng 2015 als Jungprofi schwere Folgen, musste er die Rundfahrt nach der 12. Etappe aufgrund eines Bruchs des neunten Brustwirbels doch unfreiwillig aufgeben und danach eine mehrmonatige Pause einlegen.
Im Jahr darauf war er im Prolog in Apeldoorn mit Bestzeit unterwegs, ehe er erneut zu Fall kam und damit ein Spitzenergebnis vergab. «Ein Fahrfehler», erinnert sich Küng. Dieser habe lange an ihm genagt. «Nun bekomme ich die Chance, es besser zu machen.»
Was würde es ihm bedeuten, das Rosa Trikot zu tragen? «Das wäre natürlich grandios. Rein optisch ist es das coolste Leadertrikot», findet Küng. Vom Stellenwert her sei zwar nichts höher einzustufen als das Maillot jaune der Tour de France, doch «ein rosafarbenes Führungstrikot gibt es nur am Giro, dementsprechend sticht es heraus».
Küng wäre seit langer Zeit der erste Schweizer, der sich die Maglia Rosa überstreifen lassen könnte. Alex Zülle war 1998 der Letzte, dem diese Ehre zu Teil wurde. 25 Jahre später will Küng die Chance packen und herausstechen.