Olympia-Rückblick Als «Kugel-Werni» mit den Ansprüchen haderte

SDA

7.7.2020 - 05:19

An den Olympischen Spielen 1988 in Seoul erwartet die Schweiz Gold von Kugelstosser Werner Günthör. Während sich «Kugel-Werni» zum Schluss über Bronze freut, ist die Stimmungslage zuhause eine andere.

Werner Günthör ist eine imposante Erscheinung. Auch im Alter von bald 60 Jahren wirken seine rund 200 Zentimeter Körperlänge, die breiten Schultern und seine massiven Hände noch wie für das Kugelstossen geschaffen. Drei Mal kürte sich der Modellathlet aus dem Thurgau, dem selbst die internationale Konkurrenz «ideale Masse für einen Kugelstosser» attestierte, zum Weltmeister. Nur sieben Athleten auf der Welt warfen die Kugel bis heute weiter als Günthör 1988 in Bern. Seine 22,75 m von damals sind in der Schweiz noch immer unangetastet.

Günthör war ein Kugelstosser wie eine Naturgewalt. Dank seiner physischen Voraussetzungen und seiner Technik galt er in der Schweiz als eine Art moderner Herkules, ehe es im September 1988 in Seoul zur Götterdämmerung kam. «Kugel-Werni», der amtierende Welt- und Europameister, war als grosser Favorit auf Olympiagold nach Südkorea gereist, er kehrte mit Bronze in die Heimat zurück – desillusioniert und gefrustet.

Weniger die eigene Leistung als die Reaktionen auf seinen 3. Platz stimmten den damals 26-Jährigen nachdenklich. Günthör, der die grossen Erwartungen aus der Heimat nicht hatte erfüllen können, fand sich plötzlich in einer ungewohnten Situation: Statt den Lobpreisungen vergangener Jahre erntete Günthör für seinen Medaillengewinn kritische Fragen. Als «brutal» bezeichnete Günthör die Reaktionen auf sein Abschneiden, die viele Fragerei quittierte er mit einer Gegenfrage: «Haben denn alle die Relationen völlig verloren?»

Hochkarätige Konkurrenz, missglückte Vorbereitung

Als Weltmeister war Günthör mit Ambitionen auf Gold nach Seoul gereist – aber auch im Bewusstsein, dass es ebenso gut ein 5. Rang werden könnte. Nicht nur die hochkarätige Konkurrenz in Südkorea schmälerten Günthörs Siegesaussichten, auch die letzten Wochen vor dem Wettkampf verliefen nicht nach dem Plan des Schweizers. Erst verhinderten Rückenprobleme eine normale Vorbereitung, dann verletzte sich Günthör bei einem Trainingsunfall an der Hand und als er einen Monat vor dem wichtigsten Wettkampf doch wieder in Form gekommen war, warf ihn eine Magen-Darm-Grippe erneut zurück.

Auf den Tag genau einen Monat vor dem Wettkampf in Seoul, hatte Günthör mit einem Stoss auf 22,75 Metern (Schweizer Rekord) in Bern seine Ambitionen auf Olympia-Gold untermauert, Tage später legte den Schweizer Herkules ein winziger Organismus flach. Günthör verlor wegen des Durchfalls und der Entwässerung an Gewicht. Er selber sprach von «unglaublich viel Substanz», die ihn die Grippe gekostet habe, die Öffentlichkeit mutmasste in anderer Einheit: Rund 50 Zentimeter soll ihn die Grippe zur Unzeit im Hinblick auf Seoul gekostet haben.

«Ich habe eine Medaille gewonnen, nicht eine verloren»

Am Wettkampftag selber fühlte sich Günthör mental bereit. «Nur physisch fehlte irgendwie der letzte Zwick,» sagte er nach dem Wettkampf. Seine 21,99 m hätten trotz der vielen Hürden im Vorfeld in praktisch jedem anderen Jahr für Gold gereicht. In Seoul blieb «Kugel-Werni» aber nur Bronzemedaille – und selbst um die musste er zum Schluss noch zittern. Günthör hatte den Wettkampf bereits beendet, sich innerlich schon mit Silber hinter dem überragenden Ostdeutschen Ulf Timmermann abgefunden, als es ihn und alle im Stadion kalt traf.

Der 22-jährige Amerikaner Randy Barnes, dem bis dahin kein ansprechender Wettkampf geglückt war, stiess mit seinem letzten Versuch bis ganz an die Spitze vor. Um über einen Meter – auf 22,39 m – verbesserte sich Barnes, womit er nicht nur Timmermann sondern auch Günthör schockte. «Kugel-Werni» hatte praktisch während des gesamten Wettkampfes wie der sichere Zweite gewirkt, dann drohte ihm plötzlich der ostdeutsche Olympiasieger von 1976, Udo Beyer, gar noch den 3. Platz weg zu schnappen. Während sich Beyer zur Freude der Schweizer Delegation allerdings nicht mehr verbessern konnte, setzte Weltrekordhalter Timmermann zum Schlussbouquet an: Mit einem Stoss auf 22,47 m konterte er Barnes' Angriff auf Gold. Da war für Günthör schon klar: «Ich habe eine Medaille gewonnen, nicht eine verloren.»

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