Das Schweizer Profiteam Tudor Pro Cycling plant im internationalen Radsport eine langfristige Erfolgsgeschichte. «Wir gehen andere Wege», sagt Teambesitzer Fabian Cancellara.
Der Profisport gilt als pickelhartes Geschäft, das ist auch im Radsport nicht anders. Hinter den Teams stehen potente Sponsoren, die in einem Millionenbusiness oftmals nur eines wollen: Sichtbarkeit durch Erfolg, am besten so schnell und so viel als möglich.
Deshalb ist es umso erstaunlicher, wenn Projekte wie jenes von Tudor Pro Cycling ins Leben gerufen werden. Die Profi-Equipe mit Sitz im Luzerner Umland, die aus der 2018 gegründeten Schweizer Nachwuchsmannschaft Swiss Racing Academy hervorging, weiss mit der Genfer Luxusuhrenmarke Tudor einen Hauptsponsor hinter sich, der einen etwas anderen Ansatz verfolgt.
Entgegen den gängigen Gepflogenheiten
Eingefädelt hat den Deal 2022 Fabian Cancellara. Der zweifache Zeitfahr-Olympiasieger ist der Besitzer und das Gesicht der Equipe, die ein Sprungbrett für talentierte junge Fahrer sein will und letztes Jahr in die UCI-Pro-Team-Stufe aufstieg, die zweithöchste Kategorie des internationalen Radsports.
Zusammen mit Eric Pirson, dem Leiter der Rolex-Schwesterfirma Tudor, entwickelte Cancellara die Idee, die so überhaupt nicht den Gepflogenheiten der Radsportszene entspricht: Der Aufbau des Teams ist nicht an definierte Ziele geknüpft, was den Zeithorizont betrifft. Das gemeinsame Ziel ist eine langfristige Erfolgsgeschichte. Über die Laufzeit des Sponsorenvertrags mit Tudor ist ebenso wenig bekannt wie über die finanzielle Höhe des Engagements.
Swissness keine Plattitüde
Im aktuellen 28-Mann-Kader figurieren acht Schweizer, von denen mit Tom Bohli, Simon Pellaud, Joel Suter und insbesondere Sébastien Reichenbach die Hälfte schon über Erfahrung bei World-Tour-Teams verfügt. Auch sonst wird bei Tudor «Swissness» grossgeschrieben. So verfügt das Team nicht nur über einen Schweizer Geldgeber, sondern mit den Velos von BMC, den Laufrädern von DT Swiss und der Bekleidung von Assos auch über zahlreiche Schweizer Ausrüster.
Die Debütsaison 2023 verlief mit 32 Podiumsplatzierungen bei elf Siegen ansprechend. Den grössten Erfolg in der noch jungen Teamgeschichte feierte Tudor vergangene Woche, als Arvid de Kleijn im Spurt die 2. Etappe von Paris-Nizza gewann und dem Team damit den ersten Sieg auf der World Tour bescherte. Im Februar war der 29-jährige Niederländer an der UAE Tour schon drei Mal Etappenzweiter geworden und bereits im vergangenen Jahr mit einem 2. Platz an der Polen-Rundfahrt einmal ganz nahe dran gewesen an einem Sieg auf höchste Stufe.
Schritt für Schritt
«Ich bin fast froh, hat es damals nicht geklappt mit dem Sieg», liess Cancellara an der letztjährigen WM im Gespräch mit Keystone-SDA durchblicken. Der 42-jährige Berner verfolgt mit Tudor einen klaren Plan. «Wir wollen nicht drei Schritte aufs Mal machen.» Es gehe darum, sich als Team «kontinuierlich zu entwickeln», «hungrig» zu bleiben und sich den «Respekt im Peloton» zu erarbeiten.
Wenn Cancellara vom Projekt spricht, tut er das oft in der Wir-Form. «Es ist ein Miteinander. Wir wollen gemeinsam wachsen. Vom Velo-Mechaniker bis zum potentiellen Siegfahrer.» Team-CEO Raphael Meyer nennt Schlagwörter wie «Vertrauen» und «Perspektive», die man den Fahrern geben möchte. Er nimmt den aufstrebenden Yannis Voisard als Beispiel. Der 25-jährige Jurassier hat im vergangenen Sommer parallel zum Radsport sein Biologie-Studium abgeschlossen.
Bei Tudor soll nicht nur Platz fürs Velofahren sein. Aus gutem Grund, wie Cancellara weiss: «Nur ganz wenige schaffen den Durchbruch.» Deshalb wolle man an der Basis schaffen, Kindern und Leuten in der Schweiz die Tür zum Radsport zu öffnen. «Aus der Breite kommt die Spitze.»
Im Gespräch mit den beiden wird schnell klar: Nur des Geldes wegen kommt keiner zu Tudor. «Bei uns soll das Gesamtpaket stimmen», sagt CEO Meyer. Damit will man sich von anderen Teams abheben. Und Cancellara fügt hinzu: «Damit man Leistung erbringen kann, muss alles rundherum stimmen.» Der dreimalige Gewinner von Paris-Roubaix und der Flandern-Rundfahrt weiss, wovon er spricht.
Van Aerts anerkennende Worte
Die Teamphilosophie findet bei den Fahrern Anklang, nicht nur in den eigenen Reihen. Auch ausserhalb nehmen die Leute wahr, wie bei Tudor gearbeitet wird. Kürzlich wurde Wout van Aert gefragt, bei welchem Team er unterschreiben würde, sollte er jemals einen Transfer anstreben. Der Superstar aus Belgien, der den Branchenführer Visma-Lease-a-Bike wohl kaum so schnell verlassen wird, nannte Tudor und Uno-X, eine andere junge und aufstrebende Equipe aus Norwegen. Bei Tudor versteht man Van Aerts Worte als Kompliment. «Es zeigt, dass wir richtig arbeiten und wir einen Plan und eine Vision haben», so Cancellara.
Um den nächsten Schritt zu machen, startete Tudor auf dieses Jahr hin mit acht (teils namhaften) Zuzügen bei null Abgängen eine mittelgrosse Transferoffensive. Zu den Neuen zählen mit dem ehemaligen Europameister Matteo Trentin und dem zweifachen Giro-Etappensieger Alberto Dainese zwei starke Sprinter aus Italien sowie mit dem zweifachen Vuelta-Etappensieger Michael Storer aus Australien ein starker Kletterer fürs Gesamtklassement. «Diese Fahrer werden es uns ermöglichen, auf allen Terrains auf höchstem Niveau zu fahren und Einladungen zu World-Tour-Rennen zu erhalten», sagt CEO Mayer.
Aufstieg in die World Tour
Das langfristige Ziel von Tudor bleibt der Aufstieg in die World Tour, die oberste Liga im Radsport – jedoch nicht um jeden Preis. Ende 2025 werden die Team-Status von der UCI für die darauffolgenden drei Saisons bestimmt. Dies geschieht anhand einer Dreijahreswertung. Für Tudor dürfte es schwierig werden, in den nächsten rund eineinhalb Jahren unter die besten 18 Mannschaften dieses Rankings vorzustossen.
Um regelmässig im Konzert der Grossen mitfahren zu können, dürfen sportliche Erfolge wie jener von De Kleijn bei Paris-Nizza keine Ausnahme bleiben. Am Samstag folgt mit Mailand – Sanremo der erste grosse Rad-Klassiker des Jahres, im Mai bestreitet Tudor dank einer Wildcard mit dem Giro d'Italia seine erste dreiwöchige Rundfahrt überhaupt. «Wir haben bereits Riesenschritte gemacht, aber das ist erst der Anfang», blickt Cancellara voller Zuversicht voraus.