Die Zürcherin Noemi Rüegg zählt am Samstag im WM-Strassenrennen der Frauen zum erweiterten Kreis der Medaillen-Anwärterinnen. Das hätte vor einem Jahr noch kaum jemand für möglich gehalten.
Der Schweizer Frauen-Radsport wurde in den letzten Jahren oft auf das Duo Marlen Reusser/Elise Chabbey reduziert. Das ist nicht verwunderlich, gehören die Bernerin und die Genferin doch zur Weltspitze und ziehen logischerweise die meiste Aufmerksamkeit auf sich.
Doch das Jahr 2024 meinte es nicht gut mit ihnen. Während Reusser durch ein Post-Covid-Syndrom gezwungen wurde, ihre Saison vorzeitig abzubrechen, wurde Chabbey immer wieder vom Sturzpech verfolgt. Zum Glück für die Schweiz nutzte mit Noemi Rüegg eine junge Athletin die Gelegenheit, in die Bresche zu springen. Und wie sie das tat.
Gleich in ihrem ersten Saisonrennen fuhr Rüegg im Januar auf Mallorca zu ihrem Premierensieg als Profi. Dabei war die 23-Jährige im Sprintzug ihres Teams lediglich als letzte Abfahrerin vorgesehen.
Von der Arbeitsbiene zur Lady in Pink
Diese Geschichte passt perfekt ins Bild einer jungen Frau, die seit 2022 voll auf die Karte Radsport setzt. Noemi Rüegg entstammt einer veloverrückten Familie; ihr ältester Bruder Timon ist mehrfacher Landesmeister im Radquer.
In ihren ersten zwei Jahren als Profi war für Noemi Rüegg im niederländischen Team Jumbo-Visma eine kleinere Rolle vorgesehen. Es ging für sie hauptsächlich darum, zu lernen und anderen zu helfen, damit diese glänzen konnten. Doch Rüegg merkte irgendwann: «Ich kann mehr.»
Sie entschied sich für einen Tapetenwechsel und schloss sich auf diese Saison hin dem neu gegründeten Frauenteam von EF Education-Cannondale an. Die amerikanische Equipe verfolgt eine komplett andere Philosophie, hält die Hierarchien im Team flach und den Druck auf ihre Fahrerinnen gering. Das Umfeld ist familiärer. Für Noemi Rüegg, die früher oftmals Angst hatte, Fehler zu machen, die perfekte Umgebung, um den nächsten Schritt in ihrer Karriere zu machen.
Im Kraftraum geschuftet
Dafür hat sie im Winter mit ihrer neuen Trainerin viel investiert. «Ich habe mein Trainingsvolumen und auch die Intensität der Einheiten gesteigert», erzählt sie im Gespräch mit Keystone-SDA. Sie verbringt viele Stunden im Kraftraum, um für das neue Abenteuer gerüstet zu sein. «Das hat mich physisch sehr viel weitergebracht», so Rüegg.
Die Schufterei zahlte sich aus. Aus der fleissigen Arbeitsbiene in Schwarz-Gelb ist eine Fahrerin geworden, die im frechen, pinken Dress ihres Teams regelmässig für Aufsehen sorgt. Seit Juni und ihrem Sieg im Strassenrennen der Schweizer Meisterschaft erhielt ihr Trikot zwar einen leicht roten Touch samt Schweizer Kreuz auf der Brust, von da an nahm ihre Saison aber erst so richtig Fahrt auf.
Die Olympia-Teilnahme war ein Traum, dass ihr in Paris mit dem 7. Platz gleich ein so starkes Ergebnis gelang, hätten ihr nur wenige zugetraut. Seither ging es für Noemi Rüegg Schlag auf Schlag weiter: Tour de France, Tour de Romandie und zuletzt die EM in Belgien. Und überall wusste sie zu überzeugen. Mal als starke Allrounderin, mal, weil sie am Hinterrad der Weltmeisterin Lotte Kopecky ganz vorne mitsprintete.
Was auffällt: Rüegg kann auf unterschiedlichen Terrains glänzen. Das kann Segen und Fluch zugleich sein. Dann nämlich, wenn es darum geht, sich zu entscheiden, sich in eine gewisse Richtung zu spezialisieren. «Das fällt mir tatsächlich schwer. Ich bin immer noch in der Findungsphase», sagt Rüegg. Sie beschreibt sich als Allrounderin, die ihren Fokus in Zukunft auf die Klassiker-Rennen legen will. «Die kurzen, knackigen Anstiege liegen mir sehr gut.» Das Berghochfahren mache ihr nichts aus, «solange es keine langen Pässe sind.» Dass sie auch sprinten kann, hat sie unlängst bewiesen.
Ein Fall für zwei
Mit der Heim-WM im eigenen Kanton steht für die Zürcherin das letzte Highlight einer langen Saison an. Ihre Form sei in etwa so wie in Paris, verrät Rüegg. Eine Runde auf dem Stadtrundkurs, den die Frauen am Samstag im Strassenrennen fünfmal zu bewältigen haben, konnte sie am Mittwoch im Mixed-Teamzeitfahren bereits rennmässig absolvieren. Der Parcours liegt ihr. «Ich mag die kurzen, wiederkehrenden Anstiege mit wenig Erholungszeit.»
Als Alleinunterhalterin im Schweizer Team sieht sie sich aber keinesfalls. Zusammen mit Elise Chabbey will sie eine Co-Leaderrolle einnehmen. «Wir sind ähnliche Fahrertypen. Elise kann sicher probieren, eine Attacke zu fahren und in einer Fluchtgruppe unterzukommen.» Sie selber werde versuchen, «so lange wie möglich an der ersten Gruppe dranzubleiben. Es wird sicher hart werden. Ich weiss nicht, ob ich mit den absoluten Topfahrerinnen mithalten kann, wenn die Vollgas die Ansteige hochfahren. Das Ziel ist es, so lange wie möglich dabei zu bleiben und mit einer kleinen Gruppe ins Ziel zu kommen.»
Dann kann sie ihren Sprintfähigkeiten vertrauen, wie im Januar auf Mallorca, als der Höhenflug der Aufsteigerin des Jahres seinen Anfang nahm.