Nie geht eine Tour de France dramatischer zu Ende als 1989: Greg LeMond entthront Laurent Fignon dank eines spektakulären Zeitfahrens am letzten Renntag um die Winzigkeit von acht Sekunden.
Es war die wahrscheinlich verrückteste Tour de France der Geschichte. Eine, die damit begann, dass der Titelverteidiger Pedro Delgado seinen Start im Prolog verpasste und dadurch zweieinhalb Minuten einbüsste, noch bevor er den ersten Meter gefahren war. Eine Tour, während der sich Greg LeMond und Laurent Fignon mehrmals als Leader ablösten und schliesslich den Gesamtsieg im finalen Einzelzeitfahren unter sich ausmachten. Acht Sekunden oder 82 Meter sprachen nach 3'285 Kilometern für LeMond. Nie wurde die wichtigste Rad-Rundfahrt knapper entschieden.
Zum letzten Mal endete die Tour de France 1989 nicht mit einer für das Gesamtklassement unbedeutenden Sprintetappe, nicht mit einer Triumphfahrt für den Fahrer in Gelb. Fignon musste auf den 25 Kilometern von Versailles auf die Champs Elysées seine Führung noch ein letztes Mal verteidigen. Dank 50 Sekunden Vorsprung konnte es sich der Franzose erlauben, pro Kilometer zwei Sekunden auf LeMond einzubüssen. Trotz einer offenen Wunde am Gesäss liessen die Rechenspiele eine Pflichtaufgabe für Fignon vermuten.
LeMond glaubte als einer der wenigen an die grosse Wende. Im TGV auf dem Weg in die Region Paris am Tag vor der 21. und letzten Etappe warnte er einen Teamkollegen von Fignon: «Ich habe die Tour noch nicht verloren.» Wenige Stunden später stürmte der Amerikaner mit seinem damals futuristischen Tropfenhelm und dem Triathlon-Lenker mit im Schnitt mehr als 54 Stundenkilometern Richtung Ziel. Der als Letzter gestartete Fignon mühte sich einige Kilometer weiter hinten mit seinen zusammengebundenen langen Haaren sichtlich ab und versuchte, den Zeitverlust in Grenzen zu halten.
Als Fignon die letzten Kilometer zurücklegte, stand LeMond bereits im Zielbereich. Er hielt auf Zehenspitzen Ausschau nach seinem Konkurrenten, während die Sekunden verstrichen, und fragte irgendwann: «Habe ich gewonnen?» Der französische TV-Reporter zählte derweil die letzten zehn Sekunden Reserve von Fignon herunter: «10, 9, 8 ... Laurent Fignon verliert die Tour 1989.» Acht Sekunden später überquerte der Geschlagene als Etappendritter die Ziellinie und brach zunächst in sich zusammen. «Ich wusste nichts mehr – nicht, wer ich war und nicht, wo ich war. Dann nahm der Schock Form an in meinem Kopf. Er begann, Realität zu werden», schrieb Fignon in seiner Autobiografie.
Pechvogel anstatt Dreifach-Sieger
Die paar Sekunden änderten einiges für den Pariser, der danach keinen grossen Sieg mehr errang: Anstatt zum dreifachen Tour-de-France-Sieger zu avancieren, wurde er zum Fahrer, der die Rundfahrt wegen acht Sekunden verlor. Er habe die Leute immer wieder mal daran erinnern müssen, dass er auch Rennen gewonnen habe, berichtete Fignon später. Nebst der Tour 1983 und 1984 gewann er trotz vielen Verletzungen auch den Giro, Mailand-Sanremo und die Flèche Wallone. 2010 erlag Fignon einem Krebsleiden, kurz nach seinem 50. Geburtstag und nachdem er ein letztes Mal die Tour de France als TV-Kommentator begleitet hatte.
Für LeMond hatte Fignon wenig übrig. Er warf dem Amerikaner vor, auf dem Rad etwas gar berechnend vorzugehen und vorzugsweise am Hinterrad der Konkurrenz seinen Vorsprung zu verwalten. Beide hatten eine ganz unterschiedliche Rennphilosophie, ziemlich genau ihrer Erscheinung beim legendären Einzelzeitfahren entsprechend. Auf der einen Seite der Abenteurer und Romantiker Fignon, auf der anderen Seite der innovative und zielgerichtete LeMond.
Den Sieg bei der Tour 1989 verdankte LeMond zum einen der im Windkanal getesteten Ausrüstung, aber auch einem beachtlichen Kampfgeist. Nach einem schweren Jagdunfall im April 1987 hatte er mit dem Tod gerungen. Mehrere Schrotkugeln befanden sich noch in seinem Körper, als er zwei Jahre später sein Comeback gab und mit den bescheidenen Mitteln des belgischen Rennstalls ADR den Überraschungscoup in Paris feierte. 1990 gewann er die Tour de France nach 1986 und 1989 ein drittes Mal: erneut dank seiner Leistung im letzten Zeitfahren.