Petra Klingler weiss mit den durch die Verbreitung des Coronavirus bedingten erschwerten Bedingungen umzugehen. Als Sportkletterin ist die 28-jährige Zürcherin das Improvisieren gewohnt.
Die Wände hochgegangen sind wir wohl alle schon einmal. Zumindest im übertragenen Sinn. Petra Klingler braucht dafür keinen Ärger, keinen Unmut, keinen Groll. Für sie ist «die Wand» der sportliche Mittelpunkt, die Vertikale der Weg zum Ziel.
Es sind sprichwörtlich hohe Ziele, die Sportkletterer anvisieren. So weit nach oben wie möglich heisst in den Disziplinen Lead und Bouldern die Losung. In der Sparte Speed ist der Name Programm. Da dreht sich alles um die Geschwindigkeit. Der Kombinations-Wettkampf umfasst alle drei Bereiche. Gesucht werden die besten Allrounder, die komplettesten Athleten.
Der beste Allrounder beziehungsweise die beste Allrounderin wäre auch bei der olympischen Premiere im Sommer in Tokio gekürt worden. Petra Klingler hatte ihren Startplatz seit vergangenem August auf sicher, als Erste der vorgesehenen Schweizer Delegation überhaupt. An den Weltmeisterschaften in Hachioji in Japan hatte sie mit der Qualifikation fürs Finale in der Kombination die Selektionskriterien erfüllt.
Stillstand bis mindestens Ende Juni
Das Coronavirus verhindert in diesem Jahr nicht nur den ersten Auftritt der Sportkletterer im Zeichen der fünf Ringe. Der Erreger lässt zur Zeit auch keine Weltcup-Wettkämpfe zu. Neben dem zur Tradition gewordenen Auftakt in Meiringen im Berner Oberland, der am nächsten Samstag vorgesehen war, wurden auch alle weiteren Events bis Ende Juni abgesagt oder zumindest verschoben.
Die Ausfälle sind für Petra Klingler eine Enttäuschung. «Es ist nicht einfach. Da bereitest du dich lange auf die Saison vor – und dann geht nichts.» Für den Entscheid zum Stillstand hat sie gleichwohl volles Verständnis. «Die Gesundheit der Menschen ist wichtiger als der Sport.» Sie redet sogar von Erleichterung. Für sie wäre es keine gewöhnliche Saison geworden. «Aufgrund der unterschiedlichen Trainingsmöglichkeiten wäre die Chancengleichheit nicht gewährleistet gewesen.»
Den zeitlichen Aufwand fürs Training beziffert Petra Klingler auf 25 bis 30 Stunden pro Woche – und in «normalen» Zeiten. «Wie die meisten trainiere ich im Moment zu Hause.» In den eigenen vier Wänden hat sie zurzeit auch ihren Arbeitsplatz. Die Zürcherin, die im vergangenen Sommer ihr Studium in Sport und Psychologie abgeschlossen hat, ist mit einem 50-Prozent-Pensum bei der Fluggesellschaft Swiss in der Marketing-Abteilung angestellt.
Klettern als Inspiration
Improvisation und Flexibilität sind in der gegenwärtigen Ungewissheit gefragt, Lösungen in ungewohnten Situationen müssen gefunden werden. Petra Klingler ist gewappnet, denn mit solchen Herausforderungen sieht sie sich in den Wettkämpfen sehr oft konfrontiert. Auf unerwartete Situationen muss sie in der Wand innert Sekunden reagieren können. Das Sportklettern mit all seinen Facetten inspiriert sie deshalb im privaten und beruflichen Alltag.
«Ich kann aus dem Sport sehr viel mitnehmen.» Sie nennt Zielstrebigkeit und Disziplin als Beispiele. Oder das Weitermachen nach einem Scheitern und die verschiedenen Wege, die zum Ziel führen. Oder den Einfluss auf die eigene Persönlichkeit. «Man lernt sich selber extrem gut kennen, seine Stärken und Schwächen. Und man lernt zudem, ehrlich zu sich selber zu sein.»
Petra Klingler sieht die Faszination des Kletterns auch aus rein sportlichem Blickwinkel. In ihrem Beschrieb kommen Stichworte wie «spektakulär» und «kreativ» vor. Sie spricht von einer Mischung aus Technik, Taktik, Physis und Psyche. «Sportklettern fordert den ganzen Körper. Beine, Rumpf, Schultern und Rücken, alles. Beweglichkeit ist gefragt, Kraft und Ausdauer.» Klettern ist auch Kopfsache. «Es geht darum, keine negativen Gedanken aufkommen zu lassen. Der Kopf muss mit dem Körper harmonieren.»
Lieblingsdisziplin Bouldern
Petra Klingler hat sich auf das Bouldern spezialisiert. Es ist die Disziplin, in der mehr als ein Versuch zur Verfügung steht, um die Route zu schaffen, dafür nur fünf Minuten für die Lösung eines unbekannten Problems. «Hier lernst du das Scheitern», sagt sie und nennt den Grund für ihre Vorliebe. «Bouldern ist sehr komplex und erfordert unterschiedliche Fähigkeiten. Es ist nicht nur sehr dynamisch und kräfteraubend. Es braucht auch enorme Koordination, Beweglichkeit und mentale Stärke. Das kommt mir entgegen, denn Kraft und Dynamik waren schon immer meine grossen Stärken. Dazu habe ich ein sehr gutes Körpergefühl.»
Im Bouldern, bei dem ohne Seil bis zu einer maximalen Höhe von vier Metern geklettert wird, erreichte Petra Klingler ihre bisher bedeutendsten Erfolge. Vor vier Jahren wurde sie Weltmeisterin, vor drei Jahren gewann sie an den Europameisterschaften die Bronzemedaille. Im vergangenen Oktober gab es zudem Silber an den World Beach Games in Doha, einem erstmals durchgeführten Anlass mit Wettkämpfen in 14 nicht-olympischen Sportarten.
Dass es zuletzt an den traditionellen Grossanlässen nicht mehr ganz an die Spitze gereicht hat, begründet sie mit veränderter Fokussierung. «Damals hatte ich mich voll und ganz aufs Bouldern konzentriert. Nunmehr hat die Kombination an Bedeutung gewonnen.»
Beim Thema Kombination sind die Olympischen Spiele wieder ganz nah. Die Verlegung ins kommende Jahr ändert nichts daran. Petra Klingler will in Tokio so oder so hoch hinaus.