Die Verschiebung der Olympischen Spiele von Tokio um ein Jahr lösten bei Giulia Steingruber Zweifel aus. Inzwischen ist klar, dass die 26-jährige ihre Karriere fortsetzen wird – mindestens bis 2021.
Im Interview spricht die fünffache Europameisterin sowie WM- und Olympia-Dritte über das spezielle Jahr 2020, ihren Trainingsalltag in Magglingen und Missbrauchsfälle im Kunstturnen.
Giulia Steingruber, die Sommerferien sind vorbei, Sie stecken wieder voll im Training, obwohl man noch nicht weiss, wann die nächsten Wettkämpfe stattfinden werden.
Die fehlenden Wettkämpfe und ein fehlendes Ziel, auf das man trainieren kann, machen es schwierig, sich zu motivieren. Ich persönlich habe Mühe damit. Aber wenn man langfristig denkt, dann geht es.
Nach dem Bekanntwerden der Verschiebung der Olympischen Spiele von Tokio Ende März hegten Sie Zweifel, ob Sie Ihre Karriere überhaupt fortsetzen wollen. Ist das Thema Rücktritt inzwischen vom Tisch?
Ja. Für mich war die Verschiebung im ersten Moment ein Schock. Ein weiteres Jahr mehr ist schon eine grosse Belastung für den Körper. Mit 20 hätte ich mir diese Gedanken aber wohl nicht gemacht. Ich fragte mich: 'Mag ich noch einmal ein Jahr 'beissen' nach all den Verletzungen, die happig gewesen sind?' Diese gaben mir schon zu denken. Mit einem Rücktritt konnte ich mich aber nicht abfinden. Deswegen war für mich klar, dass das Ziel Tokio bleibt – auch wenn niemand weiss, wie die Situation 2021 sein wird.
Wann war für Sie klar, dass Sie weitermachen?
Ich wollte abwarten, wie es wieder im Training läuft, denn ich gebe mich nicht mit wenig zufrieden. Ich will mich verbessern gegenüber der WM in Stuttgart (2019), weil ich dort nicht mein volles Potenzial ausschöpfen konnte, was nach der Verletzung allerdings klar gewesen war. Es war nicht selbstverständlich, dass ich wieder ein gewisses Niveau erreiche – und zwar dasjenige von Rio (2016). Es war ein Stück Arbeit, aber es lief nach den zwei Monaten Pause einfacher als erwartet. Ich hatte meine Sachen schnell wieder im Griff.
Könnte das zusätzliche Jahr auch ein Vorteil sein, da Sie nach Ihrem Kreuzbandriss 2018 mehr Zeit haben?
Die Zeit spielt sicherlich für mich. Es wäre im Hinblick auf Olympische Spiele in diesem Sommer ein ziemlicher Stress geworden, das gebe ich offen zu. Wichtig war für mich, dass ich die Situation mit den Trainern analysiert habe, damit wir die Belastung steuern können, denn ich kann nicht mehr gleich trainieren wie früher.
Was heisst das konkret?
Es sind viele kleine Dinge, auch organisatorischer Art, die im Alltag geregelt werden müssen. Zudem kommuniziere ich jeweils offen, wie es mir körperlich geht. Weniger trainieren tue ich deswegen aber nicht. Vielleicht brauche ich für gewisse Dinge einfach etwas mehr Zeit (lacht).
Am Sprung ist Ihr Standardprogramm der Tschussowitina und der Jurtschenko mit Doppelschraube. Sind Änderungen geplant?
Ich habe vor dem Lockdown mit Vorbereitungssprüngen begonnen, tendenziell eher für einen neuen zweiten Sprung. Nun werde ich intensiver daran arbeiten. Es wäre schön, wenn es klappen würde. Ich habe ein halbes Jahr Zeit. Bis im Januar müssen meine Übungen stehen, damit ich sie bis Tokio stabilisieren kann.
Schon vor dem Unterbruch haben Sie im Training einen Fokus auf den Stufenbarren gelegt. Warum?
Barren ist mein schlechtestes Gerät, das mich an Wettkämpfen immer extrem runterzieht, was schade ist. Es ist ein sehr technisches Gerät, man braucht viel Geduld. Es gibt viele Tage, an denen ich mega 'krampfen' muss. Es ist eine Herausforderung.
Wie sieht die Situation am Boden aus? Das ist neben dem Sprung Ihr Paradegerät.
Wichtig war, dass ich am Boden wieder beschwerdefrei turnen kann, was seit diesem Jahr der Fall ist. In Stuttgart hatte ich noch eine kleine Schraube im Knie, die zu Reizungen geführt und geschmerzt hat. Nun kann ich wieder mit beiden Beinen aktiv abspringen, was die Flugphase erleichtert.
Der nächste Wettkampf könnten die verlegten Europameisterschaften sein, die nun im Dezember in Baku stattfinden sollen.
Falls sie stattfinden, muss ich mir gut überlegen, ob sie für mich Sinn machen, da wir ja keine Vorbereitungswettkämpfe haben. Bei einer Teilnahme hätte ich im Dezember eine EM, im April eine EM und im Juli die Olympischen Spiele – alle drei bis vier Monate ein Grossanlass ist mit 26 happig. Für den Kopf und die Motivation wäre eine Teilnahme nicht schlecht. Wichtig ist aber, dass ich 2021 voll fit bin.
Fest geplant haben Sie eine Teilnahme an den Europameisterschaften im April in Basel. Welchen Einfluss hatte dieser Anlass auf den Entscheid, die Karriere zu verlängern?
Es ist ein Zufall, dass durch die Olympia-Verschiebung die Situation ähnlich ist wie 2016, als vor Rio die Heim-EM in Bern stattfand. Ich sehe es als gutes Omen.
Nach dem Lockdown haben mit Ilaria Käslin, Thea Brogli und Fabienne Studer drei langjährige Teamkolleginnen aufgehört. Was bedeutet das für Sie?
Wenn jemand aufhört, kommt es immer zu Veränderungen. Den Generationenwechsel mitzuerleben finde ich spannend. Man trainiert zusammen in der Halle, aber ausserhalb bin ich mit den Jüngeren nicht oft unterwegs, weil wir andere Interessen haben.
Auch der interne Konkurrenzkampf fehlt.
Zu Beginn mit Ariella (Kaeslin) gab es diesen schon – und später an einzelnen Geräten. Aber ich suche diesen nicht. Ich weiss, dass ich mein eigenes Ding machen muss.
Pablo Brägger und Oliver Hegi sind aufgrund der Olympia-Verschiebung und ihrer beruflichen Ausbildung in ihre Regionen zurückgekehrt. War eine Sonderlösung auch für Sie ein Thema?
Ich erfuhr vom Entscheid erst kurz vor der öffentlichen Kommunikation, was ich persönlich etwas schade fand. Auch danach wurde ich weder von ihnen noch vom Verband darauf angesprochen. Ich verstehe den Entscheid der beiden. Durch die Olympia-Verschiebung befanden sich aber viele Athleten in einer ähnlichen Situation. Für mich war klar, dass ich weiter mit der Nationalmannschaft trainieren werde, weil ich nicht noch einmal den Trainer wechseln wollte und ich die Geräte in Magglingen kenne.
Der STV stand zuletzt negativ in den Schlagzeilen, weil ehemalige Rhythmische Gymnastinnen Missbrauchsvorwürfe gegen die Nationaltrainerin erhoben. Der Chef Spitzensport wurde vorläufig suspendiert, eine externe Untersuchung läuft. Hat dieser Fall Einfluss auf den Alltag der Kunstturnerinnen?
Uns Kunstturnerinnen betrifft dies nicht. Wir haben den Trainingsbetrieb normal weitergeführt und mischen uns da auch nicht ein. Früher hatte ich noch regelmässig Kontakt mit Gymnastinnen, als sie in derselben Halle trainierten wie wir. Zuletzt aber nicht mehr, da diese längere Zeit nicht mehr in Magglingen trainierten.
Auch im Kunstturnen wurden weltweit verschiedene Missbrauchsfälle publik. Während des Lockdowns kam in den USA der Dokumentarfilm «Athlete A» heraus, der den Skandal um den amerikanischen Teamarzt Larry Nassar dokumentiert. Wird dies unter den Athletinnen thematisiert?
Es ist ein extrem heikles Thema, zu dem ich mich aber nicht äussern kann, weil ich die Details der einzelnen Fälle nicht kenne und nicht dabei war. Für die Opfer tut es mir natürlich enorm leid, denn über gewissen Aussagen erschrickt man.
Ist das Frauen-Kunstturnen oder die Rhythmische Gymnastik aufgrund des jungen Alters und der hohen Anforderungen an die Athletinnen besonders gefährdet für solche Missbräuche? Oder ist die derzeitige Häufung zufällig?
Im Kunstturnen war der Dokumentarfilm vielleicht ein Auslöser, damit auch andere Athletinnen über ihre Erfahrungen sprechen. Für mich ist es schwierig, mich in diese Lage zu versetzen, weil mir so etwas nie widerfahren ist. Ich lernte zuhause, dass wenn mir etwas nicht passt, ich dies direkt anspreche und auch zuhause darüber spreche.
Ist eigentlich klar, dass Sie nach Tokio Ihre Karriere beenden werden?
(Lacht) Ich nehme eins nach dem anderen, denn es kann ja, wie wir erfahren mussten, immer etwas dazwischenkommen. Klar mache ich mir meine Gedanken. Ich will mich aber zuerst auf das konzentrieren, was noch kommt. Wenn ich schon jetzt entscheiden würde, wie es nach Tokio weitergehen wird, wäre ich allenfalls nicht mehr 100 Prozent bei der Sache – und das wäre heikel.