Die Karriere von Fabian Cancellara kannte viele Erfolge. Das Jahr 2012 mit den Sommerspielen in London steht allerdings für ein dunkles Kapitel in der Laufbahn des zweifachen Zeitfahr-Olympiasiegers.
Fabian Cancellara hatte 2012 ein klares Ziel: olympisches Gold in London. Nachdem er vier Jahre zuvor in Peking bereits Olympiasieger im Zeitfahren geworden war und im Strassenrennen die Silbermedaille gewonnen hatte, sollte es bei seiner dritten Teilnahme an Sommerspielen nun auch mit dem Olympiasieg im Strassenrennen klappen.
Die Vorbereitungen auf den Saisonhöhepunkt waren für den Zeitfahr- und Klassiker-Spezialisten allerdings alles andere als optimal verlaufen. Bei der Flandern-Rundfahrt Anfang April stürzte der Berner in einer Verpflegungszone und zog sich einen vierfachen Schlüsselbeinbruch zu. Die komplizierte Verletzung setzte ihm nicht nur körperlich, sondern auch psychisch zu. Der Traum von Olympia-Gold in London drohte zu platzen.
Doch Cancellara raffte sich auf und meldete sich im Juli an der Tour de France eindrücklich zurück. Nach seinem Sieg im Prolog in Lüttich fuhr er sieben Tage lang im Gelben Trikot. Nach der 10. Etappe verliess er die Tour, um bei der Geburt seiner zweiten Tochter Elina dabei zu sein.
Verhängnisvolle Rechtskurve
Knapp zwei Wochen später stand Cancellara zusammen mit vier weiteren Schweizern an der Startlinie für das olympische Strassenrennen. Der 250 km lange Abnützungskampf im Zentrum Londons entwickelt sich ganz nach dem Gusto des Schweizer Quintetts, das ein perfektes Rennen ablieferte. Mit Michael Schär, Gregory Rast, Michael Albasini und Cancellara waren in der Schlussphase noch vier Fahrer von Swiss Cycling ganz vorne vertreten. Die Taktik schien voll aufzugehen, bis es 16 km vor dem Ziel plötzlich krachte. Cancellara war in einer Rechtskurve gestürzt und landete in den Abschrankungen – aus der Traum von einer Medaille. Die schnappten sich andere. Allen voran der Kasache Alexander Winokurow, der Gold gewann.
Auch im Zeitfahren reichte es Cancellara vier Tage später nicht aufs Podest. Beeinträchtigt von den Schmerzen in der lädierten rechten Schulter wurde er nur Siebter. «Vielleicht hätte ich gar nicht erst antreten sollen, aber ein Kämpfer gibt niemals auf!«, ist in seiner im November 2016 erschienen Biografie zu lesen.
Cancellara liess in dem vom renommierten belgischen Radsportjournalisten Guy van den Langenbergh verfassten Werk tief blicken. Zum fatalen Sturz in London sagte er: «Ich habe die Kurve zu früh angeschnitten und bin deshalb gestürzt. Wäre ich nicht gestützt, hätte ich fast sicher eine Medaille gewonnen. Ich war noch nie so enttäuscht. Das Strassenrennen in London war der Tiefpunkt dieses verfluchten Jahres.»
Tatsächlich steckte in diesem Jahr bei Cancellara der Wurm drin. Der Sturz in Flandern, die Unruhen im Team wegen den Dopingverstrickungen von Teamchef Johan Bruyneel im Fall Armstrong, verspätete Lohnzahlungen und dazu eine schwierige Schwangerschaft seiner Frau Stefanie. Die Geschehnisse der letzten Monate vor Olympia gingen nicht spurlos am erfolgsverwöhnten Berner vorbei. «Mir fehlte es an Stabilität», erklärte sich Cancellara die Ursache für den fatalen Sturz in London.
Psychologische Hilfe
Das qualvolle Scheitern bei den Sommerspielen 2012 hatte für ihn Konsequenzen. «Nach der Niederlage von London hatte ich die Schnauze voll vom Radsport.» Cancellara brach seine Saison vorzeitig ab und liess sich einen Nagel aus der im April operierten Schulter entfernen. Auch psychisch war er an einem Tiefpunkt angelangt. «Ich brauchte Zeit für mich selbst und für meine Familie.» Bei der Aufarbeitung der Saison kam er zum Schluss, dass er psychologische Hilfe in Anspruch nehmen möchte.
«Ich war ausgebrannt, sowohl körperlich als auch psychisch. Ich konnte mich einfach nicht mehr aufraffen», gesteht Cancellara in seiner Biografie. Sein Velo fasste er nach London 2012 mehr als zwei Monate nicht mehr an. Es sei nicht einfach gewesen für ihn, zu akzeptieren, dass er psychologische Hilfe nötig habe.
Im Nachhinein bereute er den Schritt nicht. Die Therapie habe ihm geholfen, seine Niederlagen zu verarbeiten. Der Druck, ständig auf hohem Niveau Höchstleistungen bringen zu müssen, sei psychisch schwer zu ertragen, so Cancellara. «Ich lernte, mir selbst etwas mehr Gelassenheit zuzugestehen, um bestimmte Ereignisse in meinem Leben zu verarbeiten.»
Happy End in Rio
Die Auszeit vom Radsport zahlte sich für Cancellara aus. 2013 fand er mit dem Gewinn des Klassiker-Doubles Paris-Roubaix und Flandern-Rundfahrt wieder zur alten Stärke zurück. 2016, vier Jahre nach seinem fatalen Sturz in London, nahm seine Karriere an den Olympischen Spielen in Rio ein versöhnliches Ende. In seinem allerletzten Rennen als Radprofi holte Cancellara nochmals zum ganz grosser Coup aus und gewann im Zeitfahren sein zweites Olympia-Gold nach Peking 2008. Er schaffte damit etwas, was nur den wenigsten gelingt: Er nahm Abschied auf dem Höhepunkt seiner Karriere.