Jason Joseph tritt in Bestform und als Favorit zur Hallen-EM in Istanbul an. Dem Baselbieter winkt über 60 m Hürden die Chance auf Gold.
Joseph steht aber unter Druck, die Serie von Enttäuschungen an Grossanlässen zu beenden zu müssen.
Der 24-Jährige katapultierte sich nicht mit einem Ausreisser nach oben an die Spitze der europäischen Saisonbestenliste. Er arbeitete sich regelrecht empor. Gleich fünf Mal verbesserte er in den vergangenen Wochen den Schweizer Rekord, den er 2019 auf 7,56 Sekunden gesenkt hatte. Über die fünf Etappen 7,54, 7,51, 7,48, 7,45 und 7,44 gelang ihm die Steigerung um 12 Hundertstel – ein grosser Schritt.
Basel statt Florida
Im Gegensatz zu den vergangenen Jahren trainiert der Basler mit karibischen Wurzeln im Winterhalbjahr nicht mehr in Florida; er blieb am Rheinknie. Heuer gelingt es ihm dank den Trainings bei Claudine Müller im Leistungszentrum Nordwestschweiz, seine Kraft und Schnelligkeit konstant ins Hürdenkorsett zu zwängen. «Jason ist technisch sauberer geworden. Er macht weniger Fehler», bestätigt die ehemalige Mehrkämpferin und fügt hinzu: «Bei der Überquerung der Hürden ist er top, hinten hinaus wird er immer stärker.» Einzig beim Start halte Joseph wegen seiner Grösse und der Reaktionszeit international noch nicht mit der Weltspitze mit.
«Wenn es technisch passt, dann passt es auch im Kopf», antwortet Claudine Müller auf den drohenden Grossanlass-Komplex ihres Schützlings angesprochen. Die Konstanz in diesem Winter vermittle Joseph Sicherheit, sie erhöhe sein Selbstvertrauen.
Mit dem Glauben in die eigenen Fähigkeiten will der Baselbieter in der Türkei nach schwierigen Jahren zum Befreiungsschlag ausholen. Das Halbfinal-Out an der WM 2019 in Doha, der enttäuschende Auftritt an den Olympischen Spielen in Tokio 2021 und das Debakel an der WM 2022 in Eugene liessen starke Selbstzweifel aufkommen. «Keine Nerven, fehlende Erfahrung auf diesem Niveau oder schlicht zu schwach im Kopf für diese Bühne – ich weiss es nicht», sagte Joseph in den USA. Ein paar Wochen später an der EM in München war die Leistung zwar besser, aber das Verdikt mit Platz 4 zwei Hundertstel hinter Bronze brutal.
Claudine Müller betont, dass Joseph einen der fünf Rekorde in einem international stark besetzten Feld in Paris lief und nicht nur in der Schweiz als Solist unterwegs war. Denn ohne Gegner links und rechts ist es einfacher, den Rhythmus zu finden, locker und doch konzentriert zu bleiben. «Jason hat es in den Beinen. Aber er darf sich keinen Fehler erlauben», sagt Claudine Müller mit Blick auf den Sonntagabend um 19.05 Uhr, wenn die Hürdensprinter in Istanbul den letzten Medaillensatz dieser EM unter sich ausmachen.
Zweimal Daumen drücken
Möglicherweise ist die Baslerin zu diesem Zeitpunkt bereits in Jubellaune. Unmittelbar vor dem Rennen der Männer dürfte Ditaji Kambundji über die fünf Hürden starten – draussen im Sommer sind es deren zehn. Die junge Bernerin vollzog wie ihre zehn Jahre ältere Schwester Mujinga den Trainerwechsel von Adrian Rothenbühler zu Florian Clivaz, trainiert aber zweimal in der Woche bei Claudine Müller.
Ditaji Kambundji hat im vergangenen Monat nicht nur die Schweizer Bestmarke auf 7,81 Sekunden verbessert, sondern auch ihren Hausrekord über 60 m flach gesenkt (7,31). Letzteren Wert nimmt die Trainerin sehr gerne zur Kenntnis. «Bei den Frauen hat der Grund-Speed mehr Einfluss auf den Hürdensprint als bei den Männern», erklärt sie. «Die Schrittlänge ist bei den Frauen näher am Sprint.»
Die jüngste der Kambundji-Schwestern rückte Ende Oktober in die Spitzensport-RS ein und findet nun ideale Trainingsbedingungen vor. Mit ihrer Schnelligkeit kann sie einige technische Schwächen kompensieren. Bei Claudine Müller will sie diese ausmerzen. Die 43-Jährige entwickelte sich durch die Zusammenarbeit mit Joseph mehr und mehr zur Spezialistin im Hürdenbereich. Sie richtet bei Ditaji Kambundji das Augenmerk in den Trainings auf die Überquerung der Hürden. Mit Korrekturen an der Arm-Arbeit soll dieser komplexe Vorgang stabiler und schneller ablaufen.
Insbesondere eine stabile Technik kann Ditaji Kambundji gebrauchen, denn sie hat schon einige Läufe verhauen. Vor einem Jahr im Final an der Hallen-WM in Belgrad kam sie nach der zweiten Hürde zu Fall, im Sommer 2021 an der U20-WM in Nairobi stürzte sie in Führung liegend.
Hingegen hat die ungestüme Bernerin seit dem Gewinn von Bronze an der EM in München schon jene Medaille überreicht erhalten, die Joseph noch fehlt. Legt sie in Istanbul ein zweites Mal vor? «Ditaji hat gute Chancen. Aber bei den Frauen wird es enger zu und her gehen als bei den Männern», prognostiziert Claudine Müller.