Ihr Olympiasieg 1984 in Los Angeles habe sie von «Zero to Hero», vom Nichts zur Heldin verwandelt. Inzwischen kämpft Nawal El Moutawakel (56) für eine bessere Welt, für die Frauen und für den Sport.
Am letzten Wochenende hatte sie bei der Laureus Charity Night in Dübendorf, wo 1,111 Millionen Franken für soziale Sportprojekte zugunsten von Kindern gesammelt wurden, einen sympathischen Auftritt. Die damals 22-jährige, 1,62 m grosse und 50 kg leichte Marokkanerin Nawal El Moutawakel gewann 1984 in Los Angeles überraschend die Goldmedaille über 400 m Hürden. In einer Zeit von 54,61 Sekunden, nur 28 Hundertstel langsamer als die Schweizerin Léa Sprunger im Sommer 2018 bei ihrem EM-Sieg in Berlin.
El Moutawakel war die erste muslimische Frau und die erste Afrikanerin, die an Olympischen Spielen triumphierte. Sie siegte auch mehrfach an den Mittelmeer-Spielen, an der Universiade, den Afrika- und den Maghreb-Meisterschaften.
Wegen verschiedener Verletzungen beendete sie ihre Karriere bereits 1988 mit 26 Jahren vor Olympia in Seoul. Danach setzte sie zu einem jahrzehntelangen politischen und sportpolitischen Höhenflug an. Ihre atemberaubende Karriere dauert bis heute an. Als Mitglied der marokkanischen Mittepartei «Rassemblement national des indépendants» wurde sie Staatssekretärin, war von 2007 bis 2009 Marokkos Sportministerin und sitzt heute im marokkanischen Parlament.
Ins IOC wurde sie 1998 als erste Muslimin gewählt. 2008 kam sie ins weichenstellende Exekutivkomitee, und 2013 war El Moutawakel 1. IOC-Vizepräsidentin. In Casablanca rief sie einen Frauenlauf ins Leben, an dem inzwischen 30‘000 Läuferinnen aus ganz Afrika teilnehmen.
Nawal El Moutawakel: Was geschah nach Ihrem Olympiasieg?
Ich betrachtete die Goldmedaille als Verpflichtung. Ich habe mir selber die Mission auferlegt, vor allem den Mädchen zu zeigen, dass man im Sport und im Leben dank Willen und Selbstvertrauen sehr vieles erreichen kann. Ich fühlte mich selber als lebendiges Beispiel – wie Nadia Comaneci. Wir haben eine ausserordentliche Geschichte zu erzählen und der Jugend zu vermitteln.
Hat sich die Situation für die Frauen in Marokko und in Afrika verbessert seit der Zeit, als Sie eine aktive Läuferin waren?
Ich selber hatte das Glück, in einer sportlichen Familie aufzuwachsen. Mein Vater war Judoka, meine Mutter Volleyballerin. Aber der Sport war in Marokko in den Siebziger- und Achtzigerjahren wenig präsent. Es gab auch keine Frauen in Regierungsämtern, nicht in bedeutenden wirtschaftlichen Positionen, keine Trainerinnen, keine Journalistinnen etc. Ich fühlte mich als Mitglied der Olympiamission 1984 in Los Angeles völlig einsam als Frau in einer totalen Männergesellschaft. Inzwischen haben sich die Dinge enorm verändert. Frauen nehmen heute wichtige Positionen ein, treiben viel mehr Sport, geniessen Vertrauen und sind damit erfolgreich. Bei den kürzlichen Olympischen Jugendspielen in Buenos belegten die Mädchen aus Marokko fast so viele Spitzenplätze wie die jungen Männer.
Was kann die Laureus-Stiftung für Kinder erreichen?
Ich wurde Mitglied der Academy von Laureus, weil ich zutiefst davon überzeugt bin, dass der Sport für die Entwicklung der Jugend der Welt eine wichtige Rolle übernehmen kann. Sport kann mithelfen, viele Probleme zu lösen – Armut, Gewalt und vieles mehr. Vielen Jugendlichen auf der Welt fehlt die Hoffnung auf ein gutes Leben. Viele haben Probleme mit der Integration, sitzen den ganzen Tag auf dem Sofa oder leiden sonst unter einer Krankheit des 21. Jahrhunderts. Der Sport will sie bewegen und ihnen Vergnügen bereiten. Das ist eine Aufgabe für uns alle, die Sportler, das IOC, aber auch für die Medien. Der Sport strahlt eine Magie aus, er kann die Jugend stärker, zufriedener machen. Und jeder Mensch, unabhängig von Herkunft und Geschlecht, hat ein fundamentales Recht, Sport zu treiben.
Zurück zu Ihrer Vergangenheit als Athletin. Sie wuchsen in Casablanca auf, wo Sie heute noch wohnen. Bereiteten Sie sich auf die Spiele 1984 in Los Angeles im Hohen Atlas vor, wo später der zweifache marokkanische Olympiasieger Hicham El Guerrouj oft trainierte?
Nein, ich trainierte im Club Municipal Casablancais und als Studentin der Iowa State University ein paar Monate vor den Spielen in den USA. Ursprünglich war ich Sprinterin, aber mein Trainer sagte mir, ich hätte keine Medaillenchance im Sprint, ich solle es doch über 400 m Hürden versuchen. Ich weinte zuerst, dachte, ich sei viel zu klein, versuchte es dann aber doch und lernte schnell. Ich arbeitete stark an meiner Technik und verbesserte mich von Lauf zu Lauf. Heute sind die Läuferinnen technisch besser. Mein Vorbild war der elegant laufende Edwin Moses, der heutige Präsident von Laureus.
Eine schwierige Aufgabe hatten Sie als Präsidentin der IOC-Koordinationskommission für die Spiele 2016 in Rio de Janeiro.
Ja, es war keine leichte Mission. Zwischen 2010 und 2016 flog ich oft für Termine nach Rio de Janeiro. Wir mussten kontrollieren, ob alle Versprechungen seitens der Organisatoren eingehalten wurden. Es gab viele Probleme, viele Schmerzen, aber am Ende waren wir stolz, dass an den Spielen alles funktionierte.